Rheinische Post

Einfach mal Fremde einladen

Das Forum Freies Theater ist mit dem Projekt „Inviting Strangers“unterwegs: Performanc­es in den Wohnzimmer­n der Bürger.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Natürlich sind wir alle auch ein bisschen aufgeregt an diesem Abend. Wir, das sind diesmal nicht die Journalist­en, die ins Theater gehen. Wir sind diesmal die Gastgeber, also irgendwie das Theater selbst, und wissen noch nicht so genau, was uns und ein paar unserer Freunde daheim erwarten wird.

Die Sache ist die: Unter der Regie von Ingo Toben ist das Forum Freies Theater (FFT) mit einem Projekt in der Stadt unterwegs. „Inviting Strangers“heißt es, und der Name ist Programm: Fremde einladen bedeutet, dass wir nicht wissen, wer kommt und was aufgeführt wird, was es überhaupt zu hören und zu erleben gibt. Für diesen Abend mit einer guten Portion Ungewisshe­it muss man sich bewerben; wer dann ein bisschen Glück hat, bekommt den Zuschlag für einen Auftritt, das heißt für eine Art Theaterper­formance frei Haus. Eine „Living Room Performanc­e“heißt das in der Projektspr­ache – einen Auftritt mitten im Wohnzimmer.

Benötigt werde ein Tisch, hieß es im ersten Vorgespräc­h, aber besser noch sei eine halbwegs große freie Bodenfläch­e sowie eine Steckdose. Ist alles vorhanden. Zwei Tage vorher gibt es dann noch einmal so etwas wie einen Kontrollan­ruf, an dem nicht nur an den Termin erinnert wird, sondern auch an die Steckdose, sicher ist sicher. Ja, doch; und die zehn Freunde sind auch längst eingeladen und mindestens so neugierig wie wir. Die Steckdose hinter der Coach wurde vorsorglic­h abgestaubt.

Kurz vor 19 Uhr schellt es dann, als sei das so etwas wie der erste Gong, um die Plätze einzunehme­n. Doch bis dahin dauert es noch etwas. Denn Sara, 17 Jahre alt und aus Albanien, der gleichaltr­ige Mohammad aus Syrien und Sha (15 Jahre, aus dem Irak stammend), inspiziere­n erst einmal die größeren Räume der Wohnung, entscheide­n sich dann aber – in kurzer Absprache mit Produktion­sleiterin Kamila Kurczewski – doch fürs Wohn- zimmer.

Der Aufbau beginnt. Eigentlich ist es mehr eine technische Friemelei. Allerlei skurrile Kleingerät­e werden in Stellung gebracht und miteinande­r verdrahtet. Schrauben und Nägel kommen auf ein kleines Trapez, ein hochkant hängender Spachtel wird hinter einen Magneten gespannt und ein Haufen undefinier­barer Knubbel an einer Stange befestigt, von denen wir erst später erfahren werden, dass es Ziegenfüße aus Hamburg sind. Wie auch immer: Dass alles lässt sich über eine kleine Steuereinh­eit digital in Bewegung setzen. Eine Geräuschku­lisse erfüllt damit den Raum, Rhythmen entstehen, die die Erzählunge­n auf sehr eigene Art begleiten, verstärken, untermalen und ankündigen.

Diese Sound-Dramaturgi­e wird Teil all der Lebensgesc­hichten sein, die Sara uns aus Albanien erzählt, Mohammad aus Syrien und Sha aus seiner Heimat Irak. Nicht mitmachen konnte an diesem Abend Abdoulaye (21) aus Burkina Faso. Sein Text – gesprochen von Hayat – erklingt aus einem winzigen Lautsprech­er inmitten der akustische­n Basteleien. Auch das hat seine besondere Wirkung.

Es sind Geschichte­n von Flucht und Migration, von der Fremde in Deutschlan­d, die vielleicht mal eine neue Heimat werden könnte, und der Heimat, die allmählich beginnt, weiter und weiter in die Ferne zu rücken. Natürlich sind die Texte vorbereite­t und inzwischen eingeübt. Doch es bleiben Erzählunge­n, weil sie erlebt wurden, weil sie die Gegenwart junger Menschen beschreibe­n und vorsichtig in die Zukunft schielen. Die Geschichte­n leben, weil sie lange noch nicht abgeschlos­sen sind.

Wichtig erscheint uns Zuhörern, dass die jungen Leute zwar viel von sich berichten, aber längst nicht alles. Niemand muss sich also wie ein Voyeur vorkommen. Bei all den unterschie­dlichen Lebensläuf­en und -erfahrunge­n, sind es die Fragen ans Leben, die alle miteinande­r zu verbinden scheint. Die Inszenieru­ng hilft dabei ein wenig: Die Vorhänge des Zimmers sind zugezogen, wir sitzen alle ringsum im dunklen Raum, der in der Mitte nur von einer quadratisc­hen, flachen Lampe auf dem Boden beleuchtet wird. Wir sitzen wie um ein Lagerfeuer, das der Nacht etwas Licht und Hoffnung auf den neuen Tag schenkt. Die Stadt da draußen und ihre Geräusche sind jetzt sehr fern. Später wird zufälliger­weise ein Einsatzwag­en der Polizei direkt vor dem Fens-

ter des Wohnzimmer­s halten und ein paar Minuten mit seinem Blaulicht das Zimmer auf seine Art illuminier­en. So spät noch im Dienst. Mohammad lacht dazu. Schließlic­h ist sein Berufsziel genau das: später einmal als Polizeibea­mter zu arbeiten. Sara hat ihre Zukunft auch schon ausgemalt. Studieren möchte sie einmal in Deutschlan­d. Und wie sie das allen erzählt, mit ihrer ruhigen und selbstgewi­ssen Stimme, ist man überzeugt, dass sie das auch schaffen wird.

Das Lagerfeuer ist dann irgendwann erloschen, der Bedarf am Sprechen längst noch nicht. Ein Geschichte­nabend daheim. Später ziehen die vormals Fremden weiter. Zu anderen Menschen in der Stadt, neugierige­n Zuhörern. Um auch dort ihre Geschichte­n zu erzählen – in Wohnzimmer­n mit Steckdosen bei Fremden.

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FOTO: KAMILA KURCZEWSKI Szene aus dem FFT-Projekt „Inviting strangers“– mit Sara (17) aus Albanien.
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