Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Roman Folge 16
Durch Zufall wird er in das „Great Game“hineingezogen, den Kampf zwischen Großbritannien und Russland um dieVormachtstellung in Zentralasien. Auf einer Reise in den Himalaja gelangt Kim an geheime russische Unterlagen, die er in Sicherheit bringen kann.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Kim Philby, einer der größten KGB-Spione des zwanzigsten Jahrhunderts, den Spitznamen eines fiktiven Spions erhielt, der gegen Russland arbeitete. Sein Vater konnte davon natürlich nichts ahnen. Für ihn war der Roman „Kim“aus mehreren Gründen interessant. Rudyard Kipling beschrieb hier ein Indien der Spiritualität, der Armut, der Schätze und der Geheimdienste. Letzteres faszinierte Jack Philby besonders. Er hatte schon vor der Geburt seines Sohnes gelegentliche Geheimdienstaufträge ausgeführt, und im Ersten Weltkrieg wurde dies zu seiner Hauptaufgabe. Die Arbeit beschäftigte ihn so sehr, dass er für seinen Sohn keine Zeit mehr hatte. Er entschied, dass seine Frau bei ihm bleiben sollte und Kim zur Großmutter nach England geschickt wurde.Wie Generationen von Empirekindern vor ihm musste der Dreijährige 1915 das Schiff besteigen, um in eine Heimat zu reisen, die er nicht kannte. Er lebte von nun an bei seiner Großmutter May in einer englischen Kleinstadt namens Camberley. Sein Stottern begann kurz nach dem Umzug. In Indien hatte er nie gestottert. Er war ein Kind gewesen, das sich stundenlang mit allen unterhalten konnte, mit den Dienstboten, den Eltern und den anderen Kindern. Mit dem Tag, an dem er Indien verließ, änderte sich alles. In seiner Autobiografie stellt Philby diesen Zusammenhang nicht her, aber er schreibt: „Seit meinem vierten oder fünften Lebensjahr stotterte ich; manchmal gelang es mir, es zu unterdrücken, aber manchmal auch nicht.“
Viele Empirekinder berichteten später, wie fremd ihnen die englische Sprache anfangs war, wie sehr sie ihre einheimischen Kindermädchen, die vertrauten Farben und Gerüche vermissten. Die Schiffsreise nach England war ein endgültiger Bruch in ihrem Leben. Auch Kim Philby schien von diesem Moment an mit dem Gefühl der Ortlosigkeit leben zu müssen. Er wurde ein Außenseiter in zweiter Generation. Sein Vater hatte nie ganz dazugehört, und auch Kim gehörte nicht in die britische Gesellschaft. Das ist ein wichtiger Punkt, um ihn auch nur ansatzweise zu verstehen. Der erwachsene Kim sah zwar aus wie ein Oberschichtsengländer, er sprach wie ein Oberschichtsengländer, aber er dachte nie wie ein Oberschichtsengländer. Wenn später immer wieder gefragt wurde, wie jemand, der so durch und durch britisch war wie Kim Philby, seine Klasse und sein Land verraten konnte, dann gab es darauf eine Antwort: Philby sah sich nicht als Engländer. Er war von einer Mischung aus westlichen und östlichen Elementen geprägt, und er hatte sich bewusst entschieden, anders zu sein.
Wera las ihren Text zweimal durch. Sie hatte vielleicht noch keine neuen Sensationen über Kim Philby gefunden, aber sie würde trotzdem Professor Hunts Herausforderung annehmen. Vielleicht war sie eine Träumerin wie ihr Vater, aber sie hatte das Gefühl, Kim Philbys Ortlosigkeit zu verstehen. Jeder hatte seine Geheimnisse. 10. Oktober 2014 Professor Hunts Räume New College Cambridge
„Wera, das sind meine zwei anderen Doktoranden – David und Jasper.“
Hunt war zufrieden. Zehn seiner BA-Studenten waren gekommen und auch seine drei neuen Doktoranden. Er drückte Wera ein Glas in die Hand und sagte zu Jasper und David: „Jungens, seid nett zu ihr!“
Er wollte, dass die drei sich kennenlernten und Konkurrenten wurden. Seine jungen BA-Studenten mit ihren leeren Lebensläufen interessierten ihn nicht. Sie waren alle typische Produkte des Westens, träge, verwöhnt, nicht hungrig genug. Sie könnten schon bald überholt werden von den Asiaten, die alles gaben. Vielleicht waren sie die letzte Generation von westlichen Mittelschichtkindern, die durch diese Collegeräume wanderten.
Aber auf Wera, Jasper und David setzte Hunt noch Hoffnungen. Doktoranden gegeneinander antreten zu lassen hatte sich immer gelohnt. Hunt glaubte an die Kräfte des freien Wettbewerbs. Nichts trieb Leute zu größeren Höchstleistungen an als die Aussicht, ihre Mitmenschen zu übertrumpfen. Doch die Rivalität musste richtig dosiert werden. Gelegentlich hatte er eingreifen müssen, damit die Konkurrenzkämpfe nicht außer Kontrolle gerieten. Einige seiner Studenten waren so miteinander beschäftigt gewesen, dass sie am Ende ihre eigentliche Arbeit vernachlässigt hatten. Sie ignorierten damit die wichtigste Regel eines Athleten: In der Trainingsphase war ein starkes Konkurrenzdenken essenziell, aber mitten im Rennen gab es keinen größeren Fehler, als sich nach seinen Mitläu- fern umzudrehen. Ein Spitzenläufer durfte nicht daran interessiert sein, was links und rechts von ihm geschah. Drehte er sich zur Seite, verlor er Millisekunden. Hunt kannte diesen Fehler gut. Er selbst hatte zu lange nach den anderen geschielt und war in seiner Karriere mehrmals überholt worden. Einer seiner Konkurrenten hatte das umkämpfte Fellowship am Trinity College bekommen, und Hunt hatte mehrere Jahre in der akademischen Provinz verbringen müssen, bis er sich den Weg nach Cambridge zurück erschreiben konnte. Diese Zeit in der Diaspora würde er nie vergessen. Nach seiner Rückkehr hatte er sich eine neue Blickrichtung verordnet. Er schaute nur mehr geradeaus und war ein ausgezeichneter Sololäufer geworden.
Die Touristen, die das ganze Jahr über durch Cambridge pilgerten und die schönen Gebäude bewunderten, hatten keine Ahnung, was sich hinter diesen Mauern abspielte. In ihren Köpfen steckten die üblichen Elfenbeinturmklischees. Die Kinder glaubten Drehorte aus Harry-Potter-Filmen wiederzuerkennen, während sich die Erwachsenen an Sportlerfilme wie „Chariots of Fire“oder an Tom Sharpes „Porterhouse Blue“erinnert fühlten. In beiden kamen bornierte Dozenten und machtgierige Pförtner vor. In Sharpes Satire gierten übergewichtige, weltfremde Professoren nur auf das nächste Collegebankett und hatten selten einen kreativen Gedanken. Auch wenn diese Banketts immer noch gefeiert wurden, war die Realität mittlerweile eine andere.
(Fortsetzung folgt)