May vertagt Brexit-Abstimmung
Die britische Premierministerin kommt einer Niederlage zuvor. Neue Zugeständnisse aus Brüssel sollen nun her. Doch dort betont man: keine Nachverhandlungen.
LONDON Am späten Montagvormittag lief die Gerüchteküche im Londoner Regierungsviertel Westminster auf Hochtouren: Theresa May, hieß es, will die Brexit-Abstimmung abblasen, die für Dienstag angesetzt war. Die Premierministerin hatte eine Telefonkonferenz mit ihren Kabinettskollegen organisiert. Nach einer einstündigen Beratung wurde schließlich akzeptiert, dass sie das Votum nicht gewinnen kann. Lieber verzögern als mit Pauken und Trompeten untergehen, war der Beschluss des Kabinetts.
In einer Erklärung am Nachmittag vor dem Unterhaus bestätigte May die Entscheidung und versuchte zu rechtfertigen, warum sie die Abstimmung über die Annahme des Austrittsvertrages und der ihm angeschlossenen politischen Erklärung zum künftigen Verhältnis vertagen wolle. Das entscheidende Problem, sagte sie, sei der nordirische Backstop. Dabei handelt es sich um die Auffanglösung für Nordirland, mit der eine harte Grenze zur Republik Irland vermieden werden soll. Viele Abgeordnete lehnen den Backstop ab, weil er Großbritannien auf unbestimmte Zeit zur Mitgliedschaft der Zollunion verpflichtet. Sie werde, kündigte die Premierministerin an, nach Brüssel fahren, um dort „zusätzliche Rückversicherungen für die Frage nach einem Backstop“zu erlangen. Dabei betont Brüssel seit Wochen auf allen Kanälen, dass es keine Nachverhandlungen geben wird.
Die Antwort der Opposition fiel harsch aus. Labour-Chef Jeremy Corbyn verurteilte „den verzweifelten Schritt, die Abstimmung in der elften Stunde zu vertagen“, scharf. „Wir haben keine funktionierende Regierung“, meinte er und forderte eine Neuwahl. Auch dieVorsitzende der schottischen SNP, Nicola Sturgeon, kritisierte „die erbärmliche Feigheit der Premierministerin“. Wieder einmal, so die schottische Ministerpräsidentin, hätten „die Interessen der Tory-Partei eine höhere Priorität für sie als alles andere. Das kann nicht so weitergehen.“Vince Cable, der Chef der Liberaldemokraten, rief nach einem zweiten Referendum, um das Patt im Parlament aufzubrechen. Selbst in ihrer eigenen Fraktion der Konservativen stieß Mays Entscheidung auf Empörung. „In was für einer traurigen und jämmerlichen Lage sind wir gelandet“, sagte der Konservative Stewart Jackson. „Zeit für einen Misstrauensantrag.“
Während die Premierministerin weiterhin an ihrem Brexit-Kurs festhalten will, hatte der Europäische Gerichtshof in Luxemburg noch versucht, ihr goldene Brücken zu bauen. Der EuGH urteilte am Montagmorgen, dass Großbritannien seine Absicht, aus der EU auszutreten, auch wieder einseitig zurückziehen kann – selbst nach einer möglichenVerlängerung des zweijährigen Austrittsverfahrens nach Artikel 50 der EU-Verträge. Und besser noch: Großbritannien bliebe EU-Mitglied mit all den Privilegien, die es jetzt schon hat. Es mag ein verführerisches Angebot sein, aber die britische Regierung lehnte dankend ab. Die Entscheidung des EuGH sei „irrelevant“, erklärte Außenminister Jeremy Hunt, die Briten wären „schockiert und sehr wütend“, wenn der Brexit verhindert würde, und das „ist sicherlich nicht unsere Absicht“.