May kämpft um ihr Amt
Der Streit um das Brexit-Abkommen eskaliert. Weil Theresa May die Abstimmung über den Deal auf Eis gelegt hat, wollen die Hinterbänkler die Premierministerin stürzen. Mehrere potenzielle Nachfolger bringen sich in Stellung.
LONDON (dpa) Allein gegen alle: Überraschend gefasst gab sich die britische Premierministerin Theresa May, als sie am Mittwoch vor ihren Regierungssitz Downing Street trat und ihren Widersachern kurz vor dem Misstrauensvotum gegen sie die Stirn bot. Die Wahl eines neuen Parteichefs würde „die Zukunft des Landes aufs Spiel setzen und Unsicherheit schaffen, wenn wir sie am wenigsten brauchen können“, sagte May in ihrer Rede. Ihre Botschaft: Sie will Premierministerin bleiben und den Brexit-Deal mit der EU durchziehen. Doch es gibt bereits potenzielle Nachfolger.
Der zurückgetretene Brexit-Minister Dominic Raab sei die erste Wahl der Euroskeptiker, berichtete die Zeitung „The Guardian“. Seine Stärke: Er hat Erfahrung mit den Verhandlungen zum EU-Austritt – und wesentlich mehr Bindungen nach Brüssel als sein Vorgänger David Davids. Auch er war aus Protest gegen Mays Brexit-Pläne zurückgetreten. Kritiker in London und der EU werfen ihm allerdings vor, kaum in Brüssel während seiner Amtszeit aufgetaucht zu sein.
Bei den britischen Buchmachern wetten viele auf den schillernden Boris Johnson. Der 54-Jährige machte als Außenminister eine unglückliche Figur und stapfte vor allem bei seinen Reisen außerhalb Großbritanniens von einem Fettnäpfchen ins nächste. Abgeschrieben ist er damit aber noch lange nicht: Johnson, der ebenfalls aus Protest gegen Mays Pläne zum EU-Austritt zurücktrat, hat immer noch zahlreiche Fans. Seine volksnahe Art und sein Wortwitz kommen an. Er lässt keine Gelegenheit aus, gegen die Premierministerin zu stacheln.
Als besonders ehrgeizig gilt Innenminister Sajid Javid. Der Sohn eines Busfahrers aus Pakistan war gegen den EU-Austritt, wechselte aber die Seiten. Am Mittwoch gab er sich loyal: „Die Premierministerin ist die beste Person, um sicherzustellen, dass wir die EU am 29. März verlassen.“Das schließt aber nicht aus, dass der frühere Manager bei der Deutschen Bank nicht noch seinen Hut in den Ring wirft. Die nordirische DUP, die Mays Minderheitsregierung stützt, äußerte in einem BBC-Interview auch Sympathien für Javid. Weniger Chancen werden Außenminister Jeremy Hunt ein- geräumt. Der „Guardian“attestiert ihm ebenfalls große Ambitionen, May zu beerben - und eine enorme Fähigkeit, heil aus Skandalen herauszukommen. So überlebte„Teflon Jeremy“, wie er in Großbritannien genannt wird, unbeschadet große Ärztestreiks als damaliger Gesundheitsminister.
Auch der gut vernetzte Umweltminister Michael Gove wird als möglicher Nachfolger gehandelt. Nach dem Brexit-Votum im Jahr 2016 un- terstützte er zunächst Johnson bei seiner Kandidatur für das Amt des Premierministers. Im letzten Moment entschied er sich, sogar selbst den Hut in den Ring zu werfen – damals hatte es nicht geklappt.
Keine Frau im Kreise der möglichen Nachfolger? Doch. Häufiger wird Arbeitsministerin AmberRudd ins Spiel gebracht. Sie hatte sich erst kürzlich für das „weiche“Norwegen-Plus-Modell als Plan B oder ein zweites Referendum ausgespro- chen. Die Historikerin und frühere Investmentbankerin ist im Grunde ihres Herzens EU-Anhängerin.
Aber bei allen Spekulationen um Mays Nachfolge: Vielleicht umschifft die Regierungschefin wieder die schwierigen Klippen. In der turbulenten Fragestunde im Parlament am Mittwochnachmittag lief sie auf jeden Fall zu Hochform auf und verteilte auch Spitzen. Auf den Zuschauerplätzen im altehrwürdigen Unterhaus konnte man ihren
wohl wichtigsten Berater erspähen: Ehemann Philip verfolgte den Auftritt seiner Frau genau.
Fraglich ist, ob der Posten rechtzeitig neu besetzt werden könnte, um den EU-Austritt wie geplant am 29. März zu vollziehen. Spekuliert wird daher, Großbritannien könnte eine Verlängerung der Frist beantragen. Ausgelöst wurde der Putschversuch durch den Streit über das Brexit-Abkommen, das die Unterhändler Großbritanniens und der EU in Brüssel ausgehandelt hatten. Die Brexit-Hardliner um den erzkonservativen Hinterbänkler Jacob Rees-Mogg fürchten, dass Großbritannien durch das Abkommen dauerhaft eng an die Europäische Union gebunden wird.
May hatte eine für Dienstag angesetzte Abstimmung über ihren Brexit-Deal auf Eis gelegt, weil sie auf eine sichere Niederlage zusteuerte. Das brachte nun das Fass zum Überlaufen. Scharfe Kritik an der Misstrauensabstimmung kam vom CSU-Europapolitiker Markus Ferber. „Dass die Verantwortlichen in Westminister mitten in der entscheidenden Verhandlungsphase die Premierministerin stürzen wollen, ist an Absurdität nicht zu überbieten“, erklärte der Europaabgeordnete am Mittwoch. Auch ein neuer britischer Regierungschef werde kein besseres Brexit-Angebot von der Europäischen Union bekommen. „Es gibt im Prinzip zwei Optionen: einen geordneten Austritt oder Chaos“, warnte Ferber. „Die Briten müssen sich nun endlich am Riemen reißen“, mahnte er.