„Es geht mir als Physikerin um die Wahrheit“
Die Kanzlerin knöpft sich die AfD vor und wettert gegen Falschnachrichten. Über eine Fragestunde, mit der eigentlich die Opposition Merkel unter Druck setzen wollte – und nicht umgekehrt.
Angela Merkel kramt noch in ihrer Handtasche, es ist kurz vor 13 Uhr, gleich stellt sie sich zum zweiten Mal in dieser Legislaturperiode den Fragen der Bundestagsabgeordneten. Die Opposition will die Regierungschefin „grillen“, auf dass sie etwas Neues oder Geheimes oder Verfängliches sage und man daraus politisches Kapital schlagen kann. Das jedenfalls wünschen sich Parlamentarier, die dieses neue Format durchgesetzt hatten. Es gibt drängende Fragen zum Brexit, zum Konflikt zwischen der Ukraine und Russland, zu den Schwächen der internationalen Finanzmarktregulierung und der deutschen Rüstungsexportpolitik, zum Mindestlohn – und zu Manipulationen von Meinungen und Fakten, die im Internet verbreitet werden.
Zuvor plauscht Merkel aber mit dem FDP-Abgeordneten Alexander Graf Lambsdorff. Er steht vor der Regierungsbank, sie lacht, er reibt sich die Hände, sie zeigt mit dem Daumen nach oben. Irgendetwas muss ihr gefallen haben. Der Freidemokrat hatte sich jüngst in der Debatte über den von Merkel leidenschaftlich verteidigten UN-Migrationspakt die AfD vorgeknöpft und deren „System“beschrieben. Die Stärke der offenen Gesellschaft – die demokratische, faktenbasierte Auseinandersetzung – verwandelten deren Feinde in eine Schwäche mit angeblichen Enthüllungen, über die die Medien nicht berichteten, wetterte er. „Eine Lüge wird in den Raum gestellt“, ruft Lambsdorff und erklärt: „Natürlich hat vorher niemand darüber berichtet, weil es ja eine Lüge ist. Ist ja logisch!“So hätten die Medien auch noch immer nicht über die AfD-Sicht berichtet, wonach Deutschland weiterhin ein besetztes Land sei. In einer Minute und 18 Sekunden hatte Lambsdorff damit auch verteidigt, dass die Befürworter des UN-Migrationspaktes es so lange versäumten, ihn besser zu erklären: Sie hätten sich nicht vorab Gedanken über mögliche Lügen gemacht, um diese zu entkräften, bevor sie verbreitet würden. Das beschreibt kurz und knapp das Dilemma mit Falschinformationen.
Merkel gibt sich am Mittwoch bei der Beantwortung der Fragen besonders viel Mühe, wenn sie von der AfD kommen. Deren Abgeordneter Markus Frohnmaier kleidet in seine Frage die Feststellung, „das britische Volk“werde für den Brexit „bestraft“. Merkel antwortet: „Ihre Mischung aus Fakten und Wertungen teile ich nicht. Ich versuche mal, mich mit den Sachverhalten auseinanderzusetzen.“Sie erklärt die mit der EU ausgehandelte Übergangsregelung – soweit sie in 60 Sekunden so etwas überhaupt erklären kann. Mehr Zeit steht ihr nach den Regeln dieser Fragestunde für eine Antwort nicht zu.
Der AfD-Parlamentarier Martin Hebner wirft Merkel vor, Deutschland habe Europa mit dem UN-Migrationspakt tief gespalten. Merkel antwortet, der Bundestag habe sich mit den„Falschinformationen“auseinandergesetzt, die aus den Reihen seiner Fraktion gekommen seien. Und nicht jene hätten die Einigkeit der EU verletzt, die den Pakt angenommen hätten, sondern jene, die sich abgewendet hätten. Im Übrigen unterstütze die große Mehrheit das Regelwerk. Hebner protes- tiert mit einer Zusatzfrage. Merkel unterbricht mit der Gegenfrage: „Wollen wir durchzählen?“Hebner beklagt, die Kanzlerin habe ihn unterbrochen, was ihre Nervosität unter Beweis stelle. Von den anderen Fraktionen raunt ein langgezogenes „Ohhhhh“durch den Saal. Merkel setzt nach: „Ich entschuldige mich für die Unterbrechung. Es geht mir als Physikerin bei den Zahlen um die Wahrheit.“
Auch dem AfD-Parlamentarier Norbert Kleinwächter gibt sie einen mit, der am Ende einer Frage über die angebliche Zerstörungskraft von Merkel und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron wissen will, ob sie eingestehe, „dass es Zeit ist, dass Sie weg sind“. Merkel sagt, Deutschland und Frankreich kämpften für die Einhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, die Arbeitslosigkeit in Europa sinke, trotzdem müsse weiterhin um Wohlstand gekämpft werden –„aber nicht durch solch eine Polemik“.
Nach 26 Fragen und 14 Nachfragen ist die Befragung zu Ende. Die letzte Frage stellt der Grünen-Politiker Konstantin von Notz. Er will etwas über die Pläne der Regierung zum Schutz der digitalen Welt vor Hackern, Verschwörungstheoretikern, Trollen und Lügnern wissen. Er habe das Gefühl, die Regierung verhalte sich wie jemand, der auf dem Sofa sitze und behaupte, es gebe keine Steinpilze mehr. Merkel, die gerade 67 Minuten gestanden hat, sagt: „Auf dem Sofa sitze ich selten.“