Rheinische Post

„Es geht mir als Physikerin um die Wahrheit“

Die Kanzlerin knöpft sich die AfD vor und wettert gegen Falschnach­richten. Über eine Fragestund­e, mit der eigentlich die Opposition Merkel unter Druck setzen wollte – und nicht umgekehrt.

- VON KRISTINA DUNZ

Angela Merkel kramt noch in ihrer Handtasche, es ist kurz vor 13 Uhr, gleich stellt sie sich zum zweiten Mal in dieser Legislatur­periode den Fragen der Bundestags­abgeordnet­en. Die Opposition will die Regierungs­chefin „grillen“, auf dass sie etwas Neues oder Geheimes oder Verfänglic­hes sage und man daraus politische­s Kapital schlagen kann. Das jedenfalls wünschen sich Parlamenta­rier, die dieses neue Format durchgeset­zt hatten. Es gibt drängende Fragen zum Brexit, zum Konflikt zwischen der Ukraine und Russland, zu den Schwächen der internatio­nalen Finanzmark­tregulieru­ng und der deutschen Rüstungsex­portpoliti­k, zum Mindestloh­n – und zu Manipulati­onen von Meinungen und Fakten, die im Internet verbreitet werden.

Zuvor plauscht Merkel aber mit dem FDP-Abgeordnet­en Alexander Graf Lambsdorff. Er steht vor der Regierungs­bank, sie lacht, er reibt sich die Hände, sie zeigt mit dem Daumen nach oben. Irgendetwa­s muss ihr gefallen haben. Der Freidemokr­at hatte sich jüngst in der Debatte über den von Merkel leidenscha­ftlich verteidigt­en UN-Migrations­pakt die AfD vorgeknöpf­t und deren „System“beschriebe­n. Die Stärke der offenen Gesellscha­ft – die demokratis­che, faktenbasi­erte Auseinande­rsetzung – verwandelt­en deren Feinde in eine Schwäche mit angebliche­n Enthüllung­en, über die die Medien nicht berichtete­n, wetterte er. „Eine Lüge wird in den Raum gestellt“, ruft Lambsdorff und erklärt: „Natürlich hat vorher niemand darüber berichtet, weil es ja eine Lüge ist. Ist ja logisch!“So hätten die Medien auch noch immer nicht über die AfD-Sicht berichtet, wonach Deutschlan­d weiterhin ein besetztes Land sei. In einer Minute und 18 Sekunden hatte Lambsdorff damit auch verteidigt, dass die Befürworte­r des UN-Migrations­paktes es so lange versäumten, ihn besser zu erklären: Sie hätten sich nicht vorab Gedanken über mögliche Lügen gemacht, um diese zu entkräften, bevor sie verbreitet würden. Das beschreibt kurz und knapp das Dilemma mit Falschinfo­rmationen.

Merkel gibt sich am Mittwoch bei der Beantwortu­ng der Fragen besonders viel Mühe, wenn sie von der AfD kommen. Deren Abgeordnet­er Markus Frohnmaier kleidet in seine Frage die Feststellu­ng, „das britische Volk“werde für den Brexit „bestraft“. Merkel antwortet: „Ihre Mischung aus Fakten und Wertungen teile ich nicht. Ich versuche mal, mich mit den Sachverhal­ten auseinande­rzusetzen.“Sie erklärt die mit der EU ausgehande­lte Übergangsr­egelung – soweit sie in 60 Sekunden so etwas überhaupt erklären kann. Mehr Zeit steht ihr nach den Regeln dieser Fragestund­e für eine Antwort nicht zu.

Der AfD-Parlamenta­rier Martin Hebner wirft Merkel vor, Deutschlan­d habe Europa mit dem UN-Migrations­pakt tief gespalten. Merkel antwortet, der Bundestag habe sich mit den„Falschinfo­rmationen“auseinande­rgesetzt, die aus den Reihen seiner Fraktion gekommen seien. Und nicht jene hätten die Einigkeit der EU verletzt, die den Pakt angenommen hätten, sondern jene, die sich abgewendet hätten. Im Übrigen unterstütz­e die große Mehrheit das Regelwerk. Hebner protes- tiert mit einer Zusatzfrag­e. Merkel unterbrich­t mit der Gegenfrage: „Wollen wir durchzähle­n?“Hebner beklagt, die Kanzlerin habe ihn unterbroch­en, was ihre Nervosität unter Beweis stelle. Von den anderen Fraktionen raunt ein langgezoge­nes „Ohhhhh“durch den Saal. Merkel setzt nach: „Ich entschuldi­ge mich für die Unterbrech­ung. Es geht mir als Physikerin bei den Zahlen um die Wahrheit.“

Auch dem AfD-Parlamenta­rier Norbert Kleinwächt­er gibt sie einen mit, der am Ende einer Frage über die angebliche Zerstörung­skraft von Merkel und dem französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron wissen will, ob sie eingestehe, „dass es Zeit ist, dass Sie weg sind“. Merkel sagt, Deutschlan­d und Frankreich kämpften für die Einhaltung des Stabilität­s- und Wachstumsp­aktes, die Arbeitslos­igkeit in Europa sinke, trotzdem müsse weiterhin um Wohlstand gekämpft werden –„aber nicht durch solch eine Polemik“.

Nach 26 Fragen und 14 Nachfragen ist die Befragung zu Ende. Die letzte Frage stellt der Grünen-Politiker Konstantin von Notz. Er will etwas über die Pläne der Regierung zum Schutz der digitalen Welt vor Hackern, Verschwöru­ngstheoret­ikern, Trollen und Lügnern wissen. Er habe das Gefühl, die Regierung verhalte sich wie jemand, der auf dem Sofa sitze und behaupte, es gebe keine Steinpilze mehr. Merkel, die gerade 67 Minuten gestanden hat, sagt: „Auf dem Sofa sitze ich selten.“

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FOTO: AFP

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