Das Schulsystem hat sich überlebt
In Zukunft werden andere Qualifikationen gebraucht als das Ausfüllen von Lückentexten: Eigenständiges Arbeiten, Kreativität oder soziale Verantwortung. Darauf sind Schulen bisher nicht vorbereitet.
Lassen Sie uns ein Gedankenexperiment wagen. Stellen Sie sich vor, wir besuchen im Jahr 2029 eine Schule. Morgens entscheiden die Kinder, welches Lernbüro sie heute ansteuern: Neuer Mathe-Stoff oder die Vertiefung des Bausteins Literatur im Lernbüro Deutsch?
Eigenständig erarbeiten sie sich neuen Stoff, unterstützt von einem Lehrerteam, das den Lernweg begleitet und Feedback gibt. Nach der Pause begleiten wir einige Schüler zu ihrem Bienenstock. Sie überlegen, wie sie das Etikett gestalten, um den selbst erzeugten Honig auf dem Wochenmarkt zu verkaufen.
Nachmittags besucht eine Achtklässlerin eine Seniorin im benachbarten Pflegeheim.Wie in jederWoche geht sie mit ihr spazieren. „Verantwortung“heißt dieses neue Lernformat.
Utopisch, mögen Sie nun sagen. Doch genau das passiert schon jetzt. Ob in Aachen, Essen oder Münster – vielerorts sind Schulen im Aufbruch, um ihre Schülerinnen und Schüler anders als bisher auf die Zukunft vorzubereiten. Sie brechen Fächerkorsett und Stundentafel auf, fördern das Lernen im Leben und die Neugier am Lernen. Könnte das ein Modell für ganz Nordrhein-Westfalen sein?
Veränderungen im Bildungssystem sind immer Operationen am offenen Herzen, und es gibt wenige Politikfelder, in denen das Wort „Reform“so negativ besetzt ist wie in der Schulpolitik. Das hat viel damit zu tun, dass immer neue Anforderungen auf das System Schule einprasseln, aber die Ressourcen nicht im nötigen Maße wachsen.
Von G9 zu G8 zu G9 in den Gymnasien, die Inklusion, der Streit um Schulformen und Schulzeiten, und so weiter – man versteht, dass bei vielen Schülern, Lehrern und Eltern das Bedürfnis nach einem sehr groß ist: Ruhe im Karton.
Doch diese Ruhe wäre auch sehr trügerisch. Denn die Welt um uns herum ist von vielem geprägt, aber sicher nicht von Ruhe und Frieden. Die weltweiten politischen wie auch technologischen Entwicklungen stellen uns vor große Herausforderungen.
Immer mehr Menschen merken: Die Welt verändert sich dramatisch, doch unser Bildungswesen hält mit dieser Veränderung nicht mit. Die Welt, auf die unser Bildungssystem ausgerichtet ist, gibt es heute nicht mehr. Bildung hieß in unseren Industriegesellschaften lange Zeit vor allem, Menschen etwas beizubringen undWissen zu vermitteln, das auf bekannte Berufswege vorbereiten sollte. Fachwissen auf der Höhe der Zeit wird seine Bedeutung zwar nie verlieren, und jede Kompetenz wird immer an konkreten Fachthemen erlernt werden.
Doch darüber, was in Zukunft gewusst werden muss, können wir heute maximal Prognosen anstellen. Was wir aber schon jetzt mit Sicherheit sagen können: Die Fähigkeiten, die in Schulen am einfachsten zu vermitteln – und vor allem zu überprüfen – sind die gleichen, die durch den digitalen Wandel als erstes wegrobotisiert werden können.
Etwa zwei Drittel der jetzt 15-Jährigen werden in Berufen arbeiten, die wir heute noch gar nicht kennen. Für ein selbstbestimmtes und gestaltendes Leben müssen wir uns in Zukunft Unbekanntem öffnen, kritisch denken, kreativ handeln und gut mit anderen Menschen zusammenarbeiten können. Fähigkeiten, die man nicht beim Ausfüllen von Lückentexten lernt.
Dieser Tage machen sich Lehrende zu Tausenden auf den Weg zur Bildungsmesse Didacta nach Köln. Sie wollen sich weiterentwickeln oder Inspirationen für eine innovative Schulentwicklung erhalten. Doch oft stoßen sie in der Praxis an institutionelle Grenzen, an die Vorgaben der Schulaufsicht oder schlicht auf Ressourcen, die hinten und vorne nicht reichen.
Sie werden zerrieben von steigenden Anforderungen an Bürokratie und Monitoring, welches die Beziehung zu ihren Schülerinnen und Schülern belasten. Hier geben wir die Antwort: Wir wollen, dass Veränderungen der realen Entlastung von Schülern und Lehrern dienen.
Politik muss sich vom Gedanken verabschieden, in jede Schule hineinregieren zu können. Politik muss den Blick auf die Gelingensbedingungen guter Bildung und guten Lernens richten. Wo die größten Herausforderungen bestehen, muss das Land die meisten Mittel zur Verfügung stellen. Und den Schulen Freiräume zu der Entwicklung geben, die für sie gut ist.
Zurück in unsere Schule vom Anfang: Externe Schulentwickler haben dort gemeinsam mit der Schulgemeinde Innovationen angestoßen. Gut ausgebildete Pädagoginnen und Pädagogen arbeiten im Team mit Experten aus ganz anderen Bereichen: IT-Fachleute, Sozialarbeiter, Psychologen, aber auch Künstler oder Sportler.
Bezahlt werden diese auch aus Geldern für Lehrerstellen, die nicht besetzt werden konnten. Die Schule kann – wie alle Schulen der Zukunft – stärker selbst über ihr eigenes Personal, die pädagogische Ausrichtung und über fachliche Schwerpunkte entscheiden.
Dazu gehört auch die Freiheit, Lernfeedback in anderer Form als mit Ziffernnoten von eins bis sechs zu geben. Eingebunden ist die Schule in ein regionales Bildungsnetzwerk, in dem sich Lehrer mit Kollegen anderer Schulen austauschen und gegenseitig inspirieren. Und klar: Die Schule der Zukunft ist das Zentrum des jeweiligen Stadtteils.
Klingt ambitioniert? Richtig! Aber wann, wenn nicht jetzt, wollen wir uns auf denWeg machen, Bildung für das 21. Jahrhundert neu zu gestalten?
„Etwa zwei Drittel der jetzt 15-Jährigen werden in Berufen arbeiten, die wir heute noch gar nicht kennen“
Felix Banaszak (29) ist seit Januar 2018 zusammen mit Mona Neubaur Landesvorsitzender der Grünen in Nordrhein-Westfalen. Er leitet die Parteikommission „Zukunft der Bildung“zur Neuaufstellung grüner Bildungspolitik.