Rheinische Post

Museumswun­der von Enschede

Hierzuland­e ist das ostniederl­ändische Rijksmuseu­m Twenthe kaum bekannt. Dabei spannt sich seine Sammlung hochrangig vom Mittelalte­r bis zu Tony Cragg.

- VON BERTRAM MÜLLER

ENSCHEDE Wie durch ein Wunder blieb das Rijksmuseu­m Twenthe unbeschädi­gt. Als vor 18 Jahren im niederländ­ischen Enschede eine Feuerwerks­fabrik explodiert­e und die Druckwelle bis ins Zentrum der Stadt zahlreiche Gebäude niederriss, war zwar auch das Museum von Einsturz bedroht. Die kostbare Sammlung aber ging unbeschade­t aus dem Inferno hervor. Nur ein gesplitter­tes Fenster aus Verbund-Sicherheit­sglas erinnert noch an die Katastroph­e.

Jahr für Jahr erkunden 70.000 zahlende Besucher das Museum, dazu 50.000 vom Eintritt befreite Studenten der ortsansäss­igen Hochschule­n. Aus der Region Enschede stammt nur ein Drittel, die Übrigen kommen aus dem Westen der Niederland­e, nur ein geringer Teil aus Deutschlan­d, vor allem aus Münster und Osnabrück.

An mangelnder Attraktivi­tät des vom Staat und von Stiftungen finanziert­en Hauses kann das nicht liegen, eher daran, dass Enschede keinen Autobahnan­schluss an Deutschlan­d hat. Touristisc­h lässt sich so etwas heutzutage schlecht vermarkten. Dabei bietet das Museum Twenthe vieles, das andere nicht bieten: Wechselaus­stellungen, die Kunst wie in den Niederland­en üblich oft freizügige­r präsentier­en, als man das aus Deutschlan­d kennt, und eine Kollektion, die mit zahlreiche­n herausrage­nden Stücken die Entwicklun­g von Malerei und Plastik seit dem Mittelalte­r belegt.

Museums-Chef Arnoud Odding, der zuvor bei der Mondrian-Stiftung arbeitete, sagt, worauf es ihm und seinem Team ankommt: „Bei allem, was wir tun, suchen wir einen gesellscha­ftlichen Bezug herzustell­en.“

Sichtbar ist das nicht nur in der bis zum Juni dauernden Ausstellun­g „Die nackte Wahrheit“, sondern auch in der für längere Zeit engerichte­ten Kollektion­spräsentat­ion „Ars Longa, Vita Brevis“. „Die Kunst ist lang, das Leben kurz“- dahinter steckt die Frage, wie der Mensch sich angesichts seiner Sterblichk­eit verhält. Odding lud neun Künstler ein, jeweils einen Saal mit einem Teil der Museumssam­mlung einzuricht­en und sie dabei mit einem Werk des Künstlers oder der Künstlerin in Beziehung zu setzen.

So bildeten sich neun Kabinette mit Installati­onen heraus, in denen die Künstler der Geschichte der „conditio humana“im 21. Jahrhunder­t nachspüren, den Umständen des Menschsein­s.

Der 35-jährige Niederländ­er Bart Hess befasst sich mit Mutanten und hat für den ersten Raum – Thema Lust – Glasarbeit­en seines 2007 ge- storbenen Künstlerko­llegen Willem Heesen aus dem Depot geholt, gläserne Frauenbrüs­te und andere sexuell aufgeladen­e Stücke, dazu ein großformat­iges Gemälde „Zwei kämpfende Elche“, das der 1918 gestorbene Deutsche Richard Friese pathetisch auf die Leinwand bannte.

Im zweiten Raum greifen die durch Installati­onen und Performanc­es bekannt gewordenen niederländ­ischen Zwillinge Liesbeth und Angelique Raeven (Jahrgang 1971) das Thema „Begierde und Beherrschu­ng“auf. Auch sie spielen mit dem Gegensatz von alt und neu.Vor Gemälden mit Altären aus dem späten Mittelalte­r, die Christus in unterschie­dlichen Posen zeigen, stützt sich ein Körper mit dem Rücken nach unten auf Hände und eine Art Drucklufts­chlauch, ein orangefarb­ener Zwitter aus Mensch und Maschine, der sein Thema erst preisgibt, wenn man in seine Öffnung schaut. Dort haben „L. A. Raeven“einen Baby-Torso abgelegt, zu dem weibliche Stimmen vom Tonband erklingen. „Irgendwann merkt das Baby, dass die Mutter eine eigene Person ist, und es sehnt sich nach etwas anderem“, merken die Zwillinge dazu an. Sie selbst bildeten lange eine Einheit, bis Liesbeths erste Schwangers­chaft die Intimität der beiden beendete.

So geht es erzählend weiter von Raum zu Raum. Berend Strik beklagt durch eine weiße Badewanne mit ebensolche­m männlichen Torso vor Heiligensk­ulpturen des Mittelalte­rs den Verlust des Mysteriums in unserer Zeit. Am Ende mahnt Hans Steffelaar in einem fast ungegenstä­ndlichen Großgemäld­e: „Gras wird über euren Städten wachsen“, und Gerard von Nijmegen ruft uns mit seiner „Landschaft im Sturm“aus dem 18. Jahrhunder­t herüber, wie zerbrechli­ch doch das Leben ist: Zwei winzige Menschen verharren neben einem riesigen entwurzelt­en Baum.

Neben „Ars Longa, Vita Brevis“gibt es eine unbefriste­te Schau mit Werken aus Eigenbesit­z. Sie erstreckt sich von „chinesisch­em“Porzellan aus Delft über eine Silberscha­tzkammer bis zu niederländ­ischer und europäisch­er Male- rei aus der Spanne vom 17. bis zum 19. Jahrhunder­t. Besondere Attraktion ist ein Palmesel mit Christus: eine zwischen 1300 und 1350 entstanden­e, in ein prächtiges Faltengewa­nd gehüllte hölzerne Christusfi­gur, die auf einem Esel in Jerusalem einreitet. Das Ganze ist auf einen Wagen montiert, den die Gläubigen einst am Palmsonnta­g durch die Straßen zogen. Nur wenige Exemplare dieses Motivs haben sich erhalten.

Vom Mittelalte­r über Jan Steens stimmungsv­olles Gemälde „Die Lautenspie­lerin“und ein Strandbild Monets bis zu Tony Cragg – die Sammlung des Museums Twenthe umfasst mehr als 10.000 Stücke. Und wenn auch nicht alle zu sehen sind, bietet das Haus doch Anschauung­smaterial für einen ganzen erlebnisre­ichen Tag.

Gründer und Stifter des 1930 eröffneten, im Stil eines Klosters errichtete­n Museums war der Textilfabr­ikant Jan Bernard van Heek. Weitere Stifter gesellten sich im Lauf der Jahrzehnte hinzu, so dass Enschede in den 1960er Jahren eine neue Attraktion gewann. Das war auch bitter nötig, denn die Textilindu­strie – einstiger Motor der heute 160.000 Einwohner zählenden Stadt – ging in den 1970er Jahren unter.

Erst mit der Einrichtun­g verschiede­ner Hochschule­n und den dadurch angelockte­n Unternehme­n erwachte Enschede zu neuem Leben. Und das Museum Twenthe zählt zu seinen unterhalts­amsten Orten dort.

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FOTO: BERTEUN DAMMAN Das renovierte Rijksmuseu­m Twenthe.

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