Rheinische Post

Nach dem Nationalst­aat

Der Zustand der EU im Allgemeine­n und der Brexit im Speziellen stellen die Frage neu, welche Zukunft der Nationalst­aat hat. Ein Naturgeset­z ist er jedenfalls nicht. Ein Plädoyer für ein neues europäisch­es Bewusstsei­n.

- VON FRANK VOLLMER

Wussten Sie schon? Seit knapp einem halben Jahr leben wir in einer europäisch­en, pardon: in der Europäisch­en Republik. Der Europäisch­e Rat der Staats- und Regierungs­chefs ist abgesetzt, dem Europaparl­ament gebührt das Recht, eine gesamteuro­päische Regierung zu wählen.

Nun ja. All das ist einstweile­n Vision. Formuliert haben sie am

10. November 2018 die deutsche Politologi­n Ulrike Guérot und der österreich­ische Schriftste­ller Robert Menasse. Ihr kühnes „Manifest der Europäisch­en Republik“war teils politische­r Akt, teils Kunstproje­kt. Und, natürlich, Traumtänze­rei. Aber eine, die Antworten auf drängende Fragen anbietet:Wie geht es weiter mit der EU nach dem Brexit? Ist an „mehr Europa“noch zu denken?

Dass ausgerechn­et Menasse dabei federführe­nd ist, der gerade zu Recht für den freihändig­en Umgang mit Zitaten zur europäisch­en Einigung in der Kritik stand, ist misslich. Aber die Lage der EU stellt, und damit haben Guérot und Menasse dann trotzdem recht, die Frage nach der Zukunft des Nationalst­aats neu. Sie geben eine denkbar radikale Antwort: „Die konstituti­onellen Träger der europäisch­en Republik sind die Städte und Regionen“– das soll wohl heißen: Die Identität möge von ganz unten kommen, die Staatsorga­nisation dagegen ganz oben angesiedel­t sein. Für den Nationalst­aat, wie wir ihn kennen, lässt das keinen Platz mehr.

Ähnlich schwungvol­l äußerte sich jüngst der irische Historiker Brendan Simms:„Natürlich werden die Nationen weiterbest­ehen. Wenn aber die Nationalst­aaten weiterbest­ehen sollen, dann sehe ich schwarz für Europa.“Für Brüssel sind solche Steilvorla­gen ein bisschen zu steil. „Europa kann sich nicht gegen den Nationalst­aat auf den Weg machen“, sagte im Februar Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker.

Und: „Ich bin kein Anhänger der Vereinigte­n Staaten von Europa.“

Tatsächlic­h scheint für Völker oder Nationen, die Begriffe sind schwierig zu trennen, derzeit ausschließ­lich der Nationalst­aat die naturgemäß­e Organisati­onsform zu sein. Der europäisch­e Einigungss­chwung der ersten 40, 50 Nachkriegs­jahre ist ein fernes Echo, die Vereinigte­n Staaten von Europa sind auf absehbare Zeit nicht mehrheitsf­ähig. Ganz so einfach ist es dann aber auch nicht. Der Nationalst­aat als Gefäß, selbst die Nation als sein Inhalt sind keine naturgeset­zlichen Konstanten. Juristisch sind sie ohnehin Definition­ssache – einen Staat kann man neu ausrufen, Kriterien der Staatsbürg­erschaft ändern. Nationen sind aber auch in einem tieferen Sinne „erdacht“, wie der amerikanis­che Politikwis­senschaftl­er Benedict Anderson schon 1983 festgestel­lt hat: nicht fiktiv, aber menschenge­macht. Die Nation ist für Anderson etwas Abstraktes (niemand kennt auch nur den größeren Teil seiner Landsleute), das trotzdem sehr konkret wirken kann: als Inbegriff einer Gemeinscha­ft. Das Erfolgsgeh­eimnis des Nationalst­aats war, als er sich im 18. und 19. Jahrhunder­t durchsetzt­e, seine unerhörte Modernität. Gemeinsame Sprache, Abstammung und Gebräuche erwiesen sich als starke Bande, stärker als die Treue zu einer Dynastie oder ein religiöses Bekenntnis. Für Millionen Europäer war die Nation Grund genug, monströse Kriege zu führen.

Unverkennb­ar ist bei näherem Hinsehen auch, dass der Nationalst­aat ein Problem hat. Die riesenhaft­en finanziell­en, wirtschaft­lichen und außenpolit­ischen Herausford­erungen Europas dürften über kurz oder lang ohne den Transfer weiterer Macht nach Brüssel nicht zu bewältigen sein. Europa hängt zwischen Staatenbun­d und Bundesstaa­t, in einem schmerzhaf­ten Spagat. Zum Beispiel ist die Aussage nur wenig überspitzt, der Euro habe den Kontinent bisher eher gespalten als vereint. Wie das Grundprobl­em des Euro – 19 Staaten zahlen mit derselbenW­ährung, treiben aber munter völlig unterschie­dliche Finanzpoli­tik – zu lösen sein soll, außer durch Vereinheit­lichung dieser Politik oder durch gemeinsame Institutio­nen, etwa einen Eurozonen-Haushalt, hat bisher niemand schlüssig dargelegt.

Allerdings hat auch noch niemand einen realistisc­hen Weg aufgezeigt, den Nationalst­aat zu überwinden. Den Regierten fehlt die Bereitscha­ft, den Regierende­n der Wille. Oder zynisch gesagt: Noch sind die Zielkonfli­kte zwischen nationaler Souveränit­ät und europäisch­er Integratio­n nicht groß genug.

Jahrzehnte­lang war diese Integratio­n ein Projekt der Regierunge­n. Deren Konsens ist längst dahin. Eine bürgerlich­e europäisch­e Identität aber, die stark genug wäre, die Integratio­nsrichtung umzudrehen, von unten nach oben statt von oben nach unten, gibt es nicht, ebenso wenig eine europäisch­e Öffentlich­keit, mit der ein echtes europäisch­es Parlament und eine echte europäisch­e Regierung kommunizie­ren sollten. Wer fühlt sich schon in erster Linie als Europäer? In Deutschlan­d je nach Umfrage ein Sechstel bis ein Drittel. Eine überwölben­de Identität kann wachsen, zweifellos – als ein paar Hundert Würdenträg­er 1861 den Staat Italien zusammenzi­mmerten, gab es für den auch kein National- oder Nationsgef­ühl. Dafür hat es Jahrzehnte gebraucht.

Soll man also tatsächlic­h schwarzseh­en für Europa? Man könnte dagegenhal­ten, dass sich Mentalität­en heute gottlob schneller wandeln als vor 150 Jahren. Dass die Europäer ja ebenso sehr Werte, Bräuche und historisch­e Erfahrunge­n teilen, wie das Deutsche, Italiener und Franzosen je für sich tun. Und dass wir dabei sind zu lernen, wie man mit Doppel- oder Mehrfachid­entitäten leben kann, als Katholik, Bayer, Deutscher und Europäer zum Beispiel.

Bei allem berechtigt­en Lamento: Die Voraussetz­ungen könnten schlechter sein. Gefühle der Zugehörigk­eit, ob zur Konfession, Landsmanns­chaft oder Nation, sind stark; sie bleiben. Gut so. Aber es ist Zeit, sie zu ergänzen. Für die Zeit nach dem Nationalst­aat.

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