„Goethe – ein Aussteiger mit Ticket 1. Klasse“
Der TV-Literaturkritiker hat einen opulenten Band herausgebracht. Die Fotos spüren der legendären Italienreise des Dichters nach.
DÜSSELDORF Auf den Italien-Spuren des großen Dichters begab sich ein Fotograf, und ein Kritiker lieferte dazu seinen begeisterten Kommentar. Entstanden ist daraus ein sehr betrachtens- und lesenswerter Bildband.
Warum sollte man die „Italienische Reise“heute noch lesen, in einer Zeit, in der das Sehnsuchtsland der Deutschen den meisten längst bekannt ist?
SCHECK Mir sind leider noch viele Ecken Italiens unbekannt. Aber Goethe war eher als Pilger in Italien unterwegs denn als Tourist – seine Reise geht ja mindestens so sehr in sein Inneres als ins Italien seiner Zeit. Die Sehnsüchte, die ihn umtrieben, führen die Leute heute ins Yoga-Studio und zu Psychotherapeuten. Er wollte sein Leben ändern, sich von Grund auf neu erfinden. Und solche Wünsche bleiben ewig aktuell, egal, wie oft man die Quadriga des Markusdoms gesehen hat oder vor Michelangelo in die Knie gegangen ist.
Wie ist es Ihnen ergangen, als sie Goethes Reisetagebuch jetzt noch einmal gelesen haben?
SCHECK Ich war vor allem verblüfft, dass die „Italienische Reise“genau das eben nicht ist: ein Tagebuch. Goethe hat zwar ein Tagebuch auf seiner Reise geführt, den Text, den wir als „Italienische Reise“heute in Händen halten, ist aber erst Jahrzehnte später entstanden und hat eine Reihe hoch spannender Bearbeitungen durchlaufen. Am meisten staunen macht mich bis heute der wahrhaft unersättliche Wissensdurst, das nie befriedigte Interesse dieses Menschen. Nichts ist dem Reisenden Goethe zu klein, zu abgelegen oder trivial. Goethe in Italien ist eine Neugiermaschine auf zwei Beinen, ein Aktenfresser, Datenfex, Erfahrungssucher, Faktensammler und Wissens-Staubsauger. Architektur und Kunst, Musik, Literatur finden ebenso ihren Niederschlag wie die Frage nach der besten Pasta in Sizilien und nach der Sportbegeisterung norditalienischer Städte. Die „Italienische Reise“lesen ist eine Einladung zu einem Parcours durch die Wissenskreise und nicht zuletzt ein Angriff auf unsere Lachmuskeln.
Was zeigen oder erzählen für Sie die Fotos, was selbst der spannende Text nicht bietet oder zu erzählen vermag?
SCHECK Den Fotografen Helmut Schaiß lernte ich auf einer Lesereise kennen und war auf Anhieb fasziniert von seinem Projekt, mit detektivischer Akribie und Exaktheit das auf seinen Bildern festzuhalten, was Goethe in Italien gesehen hat. Das kommt meiner Vorstellung einer Zeitreise schon recht nahe. Und natürlich gibt es auch eine Seelenverwandtschaft zwischen Autor und Fotograf: Wie Goethe wollte auch Schlaiß zu dem Zeitpunkt, als die Aufnahmen entstanden, sein Leben ändern. Schlaiß hat sich ja einen alten R4 alsWohnmobil umbauen lassen und ist damit monatelang durch Italien kutschiert …
Ich habe bei der Begegnung mit diesem Buch die Erfahrung gemacht, dass ich die Fotos zwar genossen habe, sie mich aber nicht animierten, sofort eine Reise dorthin anzutreten.
SCHECK Als ich dagegen das Nachwort schrieb, wurde meine Italiensehnsucht so stark, dass mein nächster Italienurlaub natürlich schon längst gebucht ist.
Sie bezeichnen die „Italienische Reise“als das wichtigste Reisetagebuch der deutschen Literatur. Warum?
SCHECK So wie Laurence Sternes „Sentimental Journey“für die englische bildet Goethes „Italienische Reise“für die deutsche Literatur das Urmodel aller Reiseerzählungen. Dieser Text ist eine Art literarisches Big Bang. Sie können bis zu W.G. Sebald oder Christoph Ransmayr die vielfältigen Spuren dieses wirkmächtigen Textes bis in unsere Gegenwart verfolgen.
Würden Sie Goethe als einen frühen Aussteiger bezeichnen? SCHECK Unbedingt. Zu anderen Zeiten hätte Goethes Weg vielleicht nach Goa, Big Sur oder Poona geführt. Allerdings war Goethe schon auch schlau genug, sich immer einen Rückweg offen zu halten. Er war ein Aussteiger mit einem Ticket erster Klasse.
Das Reisetagebuch besitzt – wie Sie schreiben – eine „quecksilbrige Unruhe“. Ein schönes Wort, aber auch nicht gerade leicht verständlich ... SCHECK Goethe verbindet seine Reise nach Italien mit einem Zweck: er will sich als Künstler neu erschaffen. Deshalb rast er wie ein Besessener durchs Land; seine Devise lautet „Rom oder Tod!“, und dieses Getriebensein merkt man diesem Text auch noch zweihundert Jahre nach seinem ersten Erscheinen und trotz aller Bearbeitungen an.
Ist die Reise, bei allem gehörigen Selbstbewusstsein des Dichters, auch eine Art Spurensuche nach dem eigenen Vater, der ja Jahre zuvor schon südwärts nach Italien gereist war?
SCHECK Das war für mich bei der Beschäftigung mit dem Text das größte Aha-Erlebnis: dass auch schon Goethes Vater ein Tagebuch seiner Italienreise geschrieben hatte und wie stark Goethes Kindheit in Frankfurt durch die Mitbringsel dieser Reise geprägt war.
Eine letzte Frage beziehungsweise unkritischer Ausruf: Was für ein schönes, opulentes Buch, das der Dichtung so gerecht zu werden scheint!
SCHECK Deshalb freut es mich auch so, Fotograf und Verlag zusammengebracht zu haben und so diesen Prachtband zum 75. Jubiläum von Manesse Verlags mit ermöglicht zu haben.