Deutschlands erster AfD-Oberbürgermeister?
Am Tag der Europawahl wählt Görlitz auch sein Stadtoberhaupt. Die Abstimmung hat Signalwirkung für ganz Deutschland.
GÖRLITZ Sie ist mit 56.000 Einwohnern nicht nur Sachsens sechstgrößte Stadt. Sie lebt auch wie kaum eine andere mit offenen Grenzen, betont das Zusammenleben der Menschen in Görlitz auf dieser und Zgorzelec auf der anderen Seite der schmalen Neiße. Europa pur. Das Schlendern von Deutschland nach Polen dauert nur Sekunden.Wenn hier auf der Grenze die Parole „Grenzen dicht“mehrheitsfähig wird, dann ist das mehr als ein momentanes Bauchgefühl. Dann sagen die Menschen, was aus Europa werden soll.
Bei der Bundestagswahl haben sie in der Region bereits schockiert, als sie im Herbst 2017 das Direktmandat nicht dem prominenten Michael Kretschmer von der CDU gaben, sondern sich die meisten hinter den politischen Newcomer Tino Chrupalla von der AfD stellten. Deswegen rechnet sich die AfD nun aus, in Görlitz bei der Oberbürgermeisterwahl auch den ersten OB Deutschlands stellen zu können.
„Deutsches Blatt“, ruft am Morgen im Stadtteil Hagenwerder ein AfD-Mitarbeiter einem Passanten zu. Am Infostand liegen auch Skatspiele als Wahlkampfgeschenke. OB-Kandidat Sebastian Wippel hat den ausklappbaren Werbeanhänger, das „Wippelmobil“, selbst auf die Parkbucht vor der Sparkasse bugsiert. Darum drehen sich auch die ersten Gespräche mit den Bürgern. Warum denn nun auch noch diese Filiale geschlossen werden soll. Wippel, ein großer, schlanker Schwiegermuttertyp mit kurzen Haaren, bedauert, aber verspricht nichts. Keine Wahlversprechen, die er nicht halten kann.
Der 37-jährige Polizeibeamte ist Görlitzer, war zwar ein Jahrzehnt in Niedersachsen eingesetzt, hat aber den Kontakt nie abreißen lassen. In Podiumsdiskussionen könnte er bei vielen seiner Antworten auch als FDP-Kandidat durchgehen. Kein Wunder: Er war selbst Liberaler und auf Landesebene aktiv. „Wäre der FDP-Mitgliederentscheid zur Eurorettung damals ernsthaft durchgezogen und nicht ausgebremst worden, hätte es die AfD nie gegeben“, stellt er leicht verbittert fest – allerdings mit dem Hinweis: „Es ist anders gekommen, und das ist gut so.“
Gut für ihn, denn er ist nun seit 2014 Innenpolitikexperte seiner Fraktion im Dresdner Landtag und zugleich als Kommunalpolitiker mit allen Themen bestens vertraut, die imWahlkampf zur Sprache kommen könnten. Was ist mit dem Helenenbad?Warum kostet das Landratsamt so viel? Was hält er von den Plänen zur Stadthalle? Wippel weiß auf alles eine Antwort. Er hat für den Wahlkampf um das OB-Amt die Strategie entwickelt, weg von dem Klischee des Schlechtredens, hin zu positiven Zukunftsvisionen. So kommt er dann mit dem „schlagkräftigen Ordnungsamt“, mit herausragenden Projekten für den Tourismus, mit einem bezahlbaren Nahverkehr.
Wippel hat den Stand kaum aufgebaut, da grüßt auch schon der Fahrer eines Linienbusses sehr freundlich. Nach einer Umfrage der „Sächsischen Zeitung“sagen 52 Prozent, ein AfD-Oberbürgermeister würde dem Ansehen der Stadt schaden. Aber 48 Prozent sagen Nein oder sind unentschieden. Die Stadt ist nach dem AfD-Erfolg bei der Bundestagswahl zweigeteilt. Bürger berichten, dass die Spaltung mitten durch Familien gehe, dass Nachbarschaften versuchten, das Thema zu meiden. Und so erfahren es die Wahlkämpfer. Auch Oktavian Ursu.
Vor dem Einkaufszentrum huschen die Leute entweder schnell vorbei oder sie gehen freudestrahlend auf ihn zu. Der etwas gedrungen wirkende gebürtige Rumäne mit den hellwachen Augen gehörte zu den Delegierten, die sich beim Essener CDU-Parteitag hinter Jens Spahn und gegen Angela Merkel stellten und gegen den Doppelpass votierten. Aus Überzeugung. Auch seinen rumänischen Pass hat er abgegeben, als er seinen deutschen bekam. Nach Jahrzehnten in Deutschland fiel ihm die Entscheidung leicht. In Düsseldorf hat er Musik studiert, aber in Görlitz ist er zu Hause. Der frühere Solotrompeter passt wie kaum ein anderer zu der Kulturstadt Görlitz. Als der Regen überhandnimmt, verschwindet er kurz in der Kirche, umarmt Reinhard Seeliger, mit dem er in zahlreichen Benefizkonzerten über eine Million für die Sanierung der berühmten Sonnenorgel eingespielt hat und, wendet die Notenblätter, während Seeliger seine Lieblings-Toccata spielt.
Ursu wird in einer aktuellen Umfrage favorisiert. Doch auf den Straßen traut dem kaum einer. Das Gefühl für die Stimmung unter denWählern spricht bei den Menschen in Görlitz eher für ein Kopf-an-KopfRennen zwischen dem AfD-Mann und der Grünen-Frau. Franziska Schubert, 37, markant-rote Haare, Typ unermüdliche Powerfrau, ist sozusagen der personifizierte Anti-Wippel. Deshalb trat sie auch erst an, als sie nicht nur die eigene Partei hinter sich wusste. Die sächsischen Grünen halten traditionell Abstand nach unten zu den guten Bundeswerten. Nun stehen auch zwei örtliche Bürgerbündnisse und die SPD hinter ihr.
Wenn sie die„Grenzen dicht“-Parolen der AfD sieht, wird die Geologin leidenschaftlich. Der Nationalstaat sei „ein Konstrukt, das sich jemand ausgedacht hat“. Grenzen und Nationalismus hätten den Europäern so viel Leid gebracht, das wolle sie nicht erleben. Ursu kenne sie vom Gebetsfrühstück im Landtag. Sie macht sich keine Sorgen um ihre eigene Zukunft, wenn es nach monatelangem Wahlkampf am Ende nicht reicht. „Ich bin Christin und weiß deshalb, dass ich nie tiefer fallen kann als in Gottes Hand“, bekennt Schubert. Während sich die anderen Kandidaten zur Frage bedeckt halten, was nach derWahl am nächsten Sonntag passiert, wenn es zur nötigen absoluten Mehrheit nicht reicht, legt sich Schubert fest. Als sie am Abend auf dem Sofa im Jugendzentrum„Wartburg“danach gefragt wird, zögert sie und spricht dann mit lauter Stimme: „Ich ziehe zurück, wenn ich auf dem dritten Platz lande.“Es gehe schließlich nicht um die Befriedigung persönlicher Eitelkeiten, es gehe „um diese Stadt“, sagt sie. Dafür gibt es großen Applaus.
So weit ist Jana Lübeck noch nicht. Die 35-jährige Kulturmanagerin wollte ursprünglich vor allem für die Linken in den Stadtrat. Nach dem AfD-Erfolg ging sie jedoch aufs Ganze und markiert bei der OB-Wahl das Eintreten für ein soziales Görlitz, das allen gehöre, auch den Migranten. Sie findet die jüngsten Haushaltsbeschlüsse des von CDU und Freien Wählern dominierten Stadtrates zynisch. „Kein Geld“für eine Drogenprävention in der von Crystal Meth aus den nahen tschechischen Laboren besonders betroffenen Stadt. „Kein Geld“für Fahrradständer. Aber mal eben 100.000 Euro für eine neue Video-Überwachung. Drei von vier Kandidaten brauchen einen Plan B, wenn es nächsten Sonntag beim ersten Durchgang und Mitte Juni beim zweiten mit dem gut dotierten OB-Posten nicht klappt. Die Linke wird ohnehin eher als Zählkandidatin gehandelt. Der AfD-Mann und die Grünen-Frau stehen schon auf aussichtsreichen Plätzen für die Landtagswahl, können als Abgeordnete in Dresden weitermachen. Ursu nicht. „No risk, no fun“, ohne Risiko kein Vergnügen, lautet der Satz, mit dem er sich selbst anfeuert. Er wird entweder OB. Oder nichts. Muss dann als Musiker neu anfangen.
Aber so oder so: Es wird eine Premiere geben in Görlitz. Entweder der erste AfD-OB. Oder der erste CDU-Migrant als OB. Oder die erste Grünen-OB. Görlitz wird auf jeden Fall deutsche Geschichte schreiben.