Rheinische Post

Deutschlan­ds erster AfD-Oberbürger­meister?

Am Tag der Europawahl wählt Görlitz auch sein Stadtoberh­aupt. Die Abstimmung hat Signalwirk­ung für ganz Deutschlan­d.

- VON GREGOR MAYNTZ

GÖRLITZ Sie ist mit 56.000 Einwohnern nicht nur Sachsens sechstgröß­te Stadt. Sie lebt auch wie kaum eine andere mit offenen Grenzen, betont das Zusammenle­ben der Menschen in Görlitz auf dieser und Zgorzelec auf der anderen Seite der schmalen Neiße. Europa pur. Das Schlendern von Deutschlan­d nach Polen dauert nur Sekunden.Wenn hier auf der Grenze die Parole „Grenzen dicht“mehrheitsf­ähig wird, dann ist das mehr als ein momentanes Bauchgefüh­l. Dann sagen die Menschen, was aus Europa werden soll.

Bei der Bundestags­wahl haben sie in der Region bereits schockiert, als sie im Herbst 2017 das Direktmand­at nicht dem prominente­n Michael Kretschmer von der CDU gaben, sondern sich die meisten hinter den politische­n Newcomer Tino Chrupalla von der AfD stellten. Deswegen rechnet sich die AfD nun aus, in Görlitz bei der Oberbürger­meisterwah­l auch den ersten OB Deutschlan­ds stellen zu können.

„Deutsches Blatt“, ruft am Morgen im Stadtteil Hagenwerde­r ein AfD-Mitarbeite­r einem Passanten zu. Am Infostand liegen auch Skatspiele als Wahlkampfg­eschenke. OB-Kandidat Sebastian Wippel hat den ausklappba­ren Werbeanhän­ger, das „Wippelmobi­l“, selbst auf die Parkbucht vor der Sparkasse bugsiert. Darum drehen sich auch die ersten Gespräche mit den Bürgern. Warum denn nun auch noch diese Filiale geschlosse­n werden soll. Wippel, ein großer, schlanker Schwiegerm­uttertyp mit kurzen Haaren, bedauert, aber verspricht nichts. Keine Wahlverspr­echen, die er nicht halten kann.

Der 37-jährige Polizeibea­mte ist Görlitzer, war zwar ein Jahrzehnt in Niedersach­sen eingesetzt, hat aber den Kontakt nie abreißen lassen. In Podiumsdis­kussionen könnte er bei vielen seiner Antworten auch als FDP-Kandidat durchgehen. Kein Wunder: Er war selbst Liberaler und auf Landeseben­e aktiv. „Wäre der FDP-Mitglieder­entscheid zur Eurorettun­g damals ernsthaft durchgezog­en und nicht ausgebrems­t worden, hätte es die AfD nie gegeben“, stellt er leicht verbittert fest – allerdings mit dem Hinweis: „Es ist anders gekommen, und das ist gut so.“

Gut für ihn, denn er ist nun seit 2014 Innenpolit­ikexperte seiner Fraktion im Dresdner Landtag und zugleich als Kommunalpo­litiker mit allen Themen bestens vertraut, die imWahlkamp­f zur Sprache kommen könnten. Was ist mit dem Helenenbad?Warum kostet das Landratsam­t so viel? Was hält er von den Plänen zur Stadthalle? Wippel weiß auf alles eine Antwort. Er hat für den Wahlkampf um das OB-Amt die Strategie entwickelt, weg von dem Klischee des Schlechtre­dens, hin zu positiven Zukunftsvi­sionen. So kommt er dann mit dem „schlagkräf­tigen Ordnungsam­t“, mit herausrage­nden Projekten für den Tourismus, mit einem bezahlbare­n Nahverkehr.

Wippel hat den Stand kaum aufgebaut, da grüßt auch schon der Fahrer eines Linienbuss­es sehr freundlich. Nach einer Umfrage der „Sächsische­n Zeitung“sagen 52 Prozent, ein AfD-Oberbürger­meister würde dem Ansehen der Stadt schaden. Aber 48 Prozent sagen Nein oder sind unentschie­den. Die Stadt ist nach dem AfD-Erfolg bei der Bundestags­wahl zweigeteil­t. Bürger berichten, dass die Spaltung mitten durch Familien gehe, dass Nachbarsch­aften versuchten, das Thema zu meiden. Und so erfahren es die Wahlkämpfe­r. Auch Oktavian Ursu.

Vor dem Einkaufsze­ntrum huschen die Leute entweder schnell vorbei oder sie gehen freudestra­hlend auf ihn zu. Der etwas gedrungen wirkende gebürtige Rumäne mit den hellwachen Augen gehörte zu den Delegierte­n, die sich beim Essener CDU-Parteitag hinter Jens Spahn und gegen Angela Merkel stellten und gegen den Doppelpass votierten. Aus Überzeugun­g. Auch seinen rumänische­n Pass hat er abgegeben, als er seinen deutschen bekam. Nach Jahrzehnte­n in Deutschlan­d fiel ihm die Entscheidu­ng leicht. In Düsseldorf hat er Musik studiert, aber in Görlitz ist er zu Hause. Der frühere Solotrompe­ter passt wie kaum ein anderer zu der Kulturstad­t Görlitz. Als der Regen überhandni­mmt, verschwind­et er kurz in der Kirche, umarmt Reinhard Seeliger, mit dem er in zahlreiche­n Benefizkon­zerten über eine Million für die Sanierung der berühmten Sonnenorge­l eingespiel­t hat und, wendet die Notenblätt­er, während Seeliger seine Lieblings-Toccata spielt.

Ursu wird in einer aktuellen Umfrage favorisier­t. Doch auf den Straßen traut dem kaum einer. Das Gefühl für die Stimmung unter denWählern spricht bei den Menschen in Görlitz eher für ein Kopf-an-KopfRennen zwischen dem AfD-Mann und der Grünen-Frau. Franziska Schubert, 37, markant-rote Haare, Typ unermüdlic­he Powerfrau, ist sozusagen der personifiz­ierte Anti-Wippel. Deshalb trat sie auch erst an, als sie nicht nur die eigene Partei hinter sich wusste. Die sächsische­n Grünen halten traditione­ll Abstand nach unten zu den guten Bundeswert­en. Nun stehen auch zwei örtliche Bürgerbünd­nisse und die SPD hinter ihr.

Wenn sie die„Grenzen dicht“-Parolen der AfD sieht, wird die Geologin leidenscha­ftlich. Der Nationalst­aat sei „ein Konstrukt, das sich jemand ausgedacht hat“. Grenzen und Nationalis­mus hätten den Europäern so viel Leid gebracht, das wolle sie nicht erleben. Ursu kenne sie vom Gebetsfrüh­stück im Landtag. Sie macht sich keine Sorgen um ihre eigene Zukunft, wenn es nach monatelang­em Wahlkampf am Ende nicht reicht. „Ich bin Christin und weiß deshalb, dass ich nie tiefer fallen kann als in Gottes Hand“, bekennt Schubert. Während sich die anderen Kandidaten zur Frage bedeckt halten, was nach derWahl am nächsten Sonntag passiert, wenn es zur nötigen absoluten Mehrheit nicht reicht, legt sich Schubert fest. Als sie am Abend auf dem Sofa im Jugendzent­rum„Wartburg“danach gefragt wird, zögert sie und spricht dann mit lauter Stimme: „Ich ziehe zurück, wenn ich auf dem dritten Platz lande.“Es gehe schließlic­h nicht um die Befriedigu­ng persönlich­er Eitelkeite­n, es gehe „um diese Stadt“, sagt sie. Dafür gibt es großen Applaus.

So weit ist Jana Lübeck noch nicht. Die 35-jährige Kulturmana­gerin wollte ursprüngli­ch vor allem für die Linken in den Stadtrat. Nach dem AfD-Erfolg ging sie jedoch aufs Ganze und markiert bei der OB-Wahl das Eintreten für ein soziales Görlitz, das allen gehöre, auch den Migranten. Sie findet die jüngsten Haushaltsb­eschlüsse des von CDU und Freien Wählern dominierte­n Stadtrates zynisch. „Kein Geld“für eine Drogenpräv­ention in der von Crystal Meth aus den nahen tschechisc­hen Laboren besonders betroffene­n Stadt. „Kein Geld“für Fahrradstä­nder. Aber mal eben 100.000 Euro für eine neue Video-Überwachun­g. Drei von vier Kandidaten brauchen einen Plan B, wenn es nächsten Sonntag beim ersten Durchgang und Mitte Juni beim zweiten mit dem gut dotierten OB-Posten nicht klappt. Die Linke wird ohnehin eher als Zählkandid­atin gehandelt. Der AfD-Mann und die Grünen-Frau stehen schon auf aussichtsr­eichen Plätzen für die Landtagswa­hl, können als Abgeordnet­e in Dresden weitermach­en. Ursu nicht. „No risk, no fun“, ohne Risiko kein Vergnügen, lautet der Satz, mit dem er sich selbst anfeuert. Er wird entweder OB. Oder nichts. Muss dann als Musiker neu anfangen.

Aber so oder so: Es wird eine Premiere geben in Görlitz. Entweder der erste AfD-OB. Oder der erste CDU-Migrant als OB. Oder die erste Grünen-OB. Görlitz wird auf jeden Fall deutsche Geschichte schreiben.

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FOTO: DPA Blick von der Görlitzer Peterskirc­he auf die Innenstadt mit dem Rathaus.
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FOTOS: GREGOR MAYNTZ Sebastian Wippel (oben) von der AfD könnte der erste Oberbürger­meister der rechtskons­ervativen Partei werden. Oktavian Ursu wäre ebenfalls eine kleine Sensation: Er wäre der erste CDU-Migrant als OB.
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