Rheinische Post

Nackte Wahrheit in vier Kapiteln

Im ostniederl­ändischen Reichsmuse­um Twenthe dreht sich zurzeit alles um Nackte. Dahinter stehen die Fragen: Was war der Mensch? Was ist er? Und wie sollte er sich ändern?

- VON BERTRAM MÜLLER

ENSCHEDE Dies ist die Geschichte vom Menschen, der sich vom gläubigen Geschöpf in einen Allmächtig­en verwandelt­e und dann in eine Krise stürzte. Das Reichsmuse­um Twenthe im niederländ­ischen Enschede erzählt sie anhand von 100 herausrage­nden Kunstwerke­n, denen eines gemeinsam ist: Die Dargestell­ten sind nackt, wirken teils verletzlic­h, teils kräftig, erotisch, frei und selbstbewu­sst.

Von Rembrandt, Jordaens und van Dyck über Warhol bis zum Galgenmann aus dem Atelier Van Lieshout – selten hat man so viele Akte mit so unterschie­dlichen Bedeutunge­n unter einem Dach vereint gesehen. Der Gang durch sechs Jahrhunder­te, gefasst in vier Kapitel, wird zu einem Gang in eine Welt ohne Gott, doch das merkt man erst später. Anfangs, im ausgehende­n Mittelalte­r und in der frühen Neuzeit, bedeutet Nacktheit noch Geschöpf, Mensch aus Fleisch und Blut, unverhüllt und existenzie­ll. Christus als blutüberst­römter Schmerzens­mann am Kreuz in einer Nahsicht-Darstellun­g von Geertgen tot Sint Jans fügt sich in eine Reihe weiterer Bilder, in denen sich Nacktheit als nackte Wahrheit zu erkennen gibt.

Werke aus der Gegenwart treten hinzu, zum Beispiel Christiaan Zwanikkens „Gefallener Engel“, eine roboterhaf­te, an einem Seil hängende Figur, die ohne Unterlass vergeblich in den Himmel zurückzust­eigen sucht. Ein Elektromot­or bewegt dabei ein Metallskel­ett.

In diesem ersten Kapitel der Ausstellun­g, „Vom Himmel zur Erde“, hält die Religion noch ihre Stellung. Luther und Erasmus von Rotterdam rücken ins Blickfeld, doch ihr Neuerertum stellt die Werte des Christentu­ms nicht in Frage, will sie im Gegenteil von Entstellun­g reinigen. Im zweiten Kapitel, „Ich denke, also bin ich“, spiegelt sich, wie der Mensch sich allmählich selbst zum Schöpfer erklärt, wie er entdeckt, dass Wissen Macht sein kann. Aktzeichnu­ngen von Michelange­lo, dem Meister der Renaissanc­e, und seinem deutschen Zeitgenoss­en Hans Baldung Grien verströmen die Kraft von Menschen, die sich ihrer selbst bewusst geworden sind.

Sie mischen sich im selben Raum mit Andy Warhols vierfachen schwarzwei­ßen Body-Builder-Oberkörper­n und Hermann Nitschs Tragbahre, einem Relikt seiner blutigen Zeremonien. Am Eingang des Saals aber kündigt eine aus transparen­tem Plastik gegossene Frau mit erhobenen Armen und auf Knopfdruck beleuchtba­ren Organen das neue Zeitalter an: Der Mensch ist Materie.

Im dritten Saal,„DieWelt in Reichweite“, hat sich die Menschheit endgültig entfesselt. Auf Terry Rodgers‘ 3,2 Meter breiter Leinwand „Der Palast automorphe­r Freuden“von 2009 fläzen sich halb entblößte grelle Teenies und Twens mit Zigarette oder Sektglas auf Sesseln und Sofas, ohne Scham und fern aller Reflexion. Kuratorin Doreen Flierman sieht darin eine Welt, in der Freizügigk­eit ohne Grenzen und zugleich Leere herrschen – ein Ausfluss der 90er Jahre, wie sie sagt, in denen man auf einmal alles durfte.

Zu diesem Thema hat sie noch mehr Bilder für ihre Schau gefunden, manche, die im eher zurückhalt­enden deutschen Ausstellun­gsbetrieb wohl keine Chance auf einen Platz im Museum bekommen hätten, allen voran zwei pornografi­sche Großfotogr­afien von Andres Serrano. Selbst die nackt badenden Frauen aus Erich Heckels„Szene am Meer“sind aus Sicht der Kuratorin ein Beweis dafür, dass Nacktheit im 20. Jahrhunder­t endgültig ihre Unschuld verloren habe und nur mehr Leere bedeute.

„Die nackte Wahrheit“provoziert gern, auch auf einem Poster der Guerilla Girls aus New York. Sie fragen: „Müssen Frauen nackt sein, um ins Metropolit­an Museum zu kommen?“Zur Erklärung heißt es unter diesem Vorwurf: „Weniger als fünf Prozent der Künstler in der modernen Kunst sind Frauen, aber 85 Prozent der Nackten sind weiblich.“Wenige Schritte entfernt belegt Rembrandt das mit seiner badenden Diana, während Egon Schiele mit seinem „Männlichen Akt“, einem Selbstbild­nis, aus der Reihe tanzt.

Die Zeiten sind in dieser Ausstellun­g miteinande­r verwoben, vieles müssen sich die Betrachter selbst erschließe­n, manches steht für sich allein. Mehr als zuvor ist im vierten Kapitel Fantasie gefordert, „Und jetzt?“. Im Video „Den Körper befreien“von 1975 tanzt die nackte Marina Abramovic mit einem um den Kopf gewickelte­n schwarzen Schal zu afrikanisc­hen Trommelklä­ngen. Wie würden sich wohl Europäer fühlen, wenn sie afrikanisc­hen Touristen vortanzen müssten?

Mark Swysen hat aus weißem Polyester eine Skulptur „Der perfekte Mensch“als Torso gebildet, der mit Metallbänd­ern in eine Kugel aus transparen­ten Regenschir­men eingespann­t ist. Statt der Beine und eines Kopfs ragen Klötze aus dem Rumpf. Ist das der gegenwarts­bezogene Nachfolger vonVitruvs und Leonardos vermessene­m Menschen? Ist das der Mensch, der nebenan in einer dunkelblau­en Kapelle von Levi van Veluw eine Andacht vor einem Altar ohne religiöse Symbole abhalten soll?

Der Mensch der Gegenwart, so lautet die These der Ausstellun­g, ist nicht erst durch die Terroransc­hläge des 11. September 2001 verunsiche­rt. Schon vorher fehlte ihm die Sicherheit, die seinen Ahnen einst der Glaube schenkte.

Aus anderen Ecken kriecht gleichfall­s Unsicherhe­it. Kuratorin Flierman nennt als Beispiel das Phänomen Transgende­r. Mit medizinisc­hen Mitteln lasse sich das Geschlecht des Menchen heute beliebig variieren. Alles sei möglich, doch es herrsche Unsicherhe­it. Die spiegele sich auch darin, dass ganzeVölke­r sich abkapseln.

„Wie finden wir eine neue Balance?“, fragt die Kuratorin. Und lässt die Bilder sprechen.

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FOTO: MUSEUM „Das jüngste Gericht“von Chrispijn van den Broeck (Ausschnitt), zu sehen in Enschede.

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