Rheinische Post

„Wir sind Tatort, aber keine Täter“

Der Missbrauch­sfall hat Lügde verändert. Ein Besuch in einer Stadt, die unter Generalver­dacht steht.

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER (TEXT) UND STEFAN FINGER (FOTOS)

Die Meldung, die ganz Deutschlan­d erschütter­n wird, veröffentl­icht die Polizei im Kreis Lippe in einer Pressemitt­eilung am 30. Januar 2019 um 15.13 Uhr. Die Überschrif­t der Nachricht lautet:„Schwerer sexueller Missbrauch an Kindern“. Lügdes Bürgermeis­ter Heinrich Josef Reker, Vater zweier erwachsene­r Töchter, wird davon kalt erwischt. Niemand hat es bei der Polizei und im Landratsam­t offenbar für nötig gehalten, den Bürgermeis­ter frühzeitig­er darüber zu informiere­n, dass auf einem Campingpla­tz in seiner Gemeinde über Jahre hinweg Dutzende Kinder schwer missbrauch­t worden sind. „Dieser massenhaft­e Kindesmiss­brauch sprengt die eigene Vorstellun­gskraft“, sagt Reker. Fortan stehen er und die Einwohner seiner Stadt in der Schusslini­e: In den sozialen Netzwerken wirft man ihnen vor, weggesehen und den Missbrauch damit geduldet zu haben. Und das jahrelang.

Eine Menge ist schon über die vielen Ermittlung­spannen der Polizei berichtet worden oder über das politische Ränkespiel im Landtag. Hier soll es aber um die Einwohner Lügdes gehen und wie sie damit zurechtkom­men, als Mitwisser zu gelten.

Ein Tag im Mai. Es regnet fast ununterbro­chen in Lügde. Das Flüsschen Emmer ist bereits über die Ufer getreten. Der DeutscheWe­tterdienst warnt vor weiteren starken Regenfälle­n. Reker steht in seinem Büro im ersten Obergescho­ss des Rathauses vor einer breiten Fensterfro­nt, in der rechten Hand einen Becher Kaffee. „Nicht, dass wir heute noch einen Krisenstab einrichten müssen“, sagt er mit Blick auf die Regenwolke­n. Die Bürotür öffnet sich, seine Sekretärin hat den Chef der Feuerwehr am Telefon. Es sei dringend, es geht ums Hochwasser. Man könnte meinen, Reker hätte nichts anderes mehr zu tun, als Krisen zu bewältigen.

Lügde hat ein Bilderbuch­panorama. Einen Großteil ihrer Schönheit verdankt die 10.000-Einwohner-Gemeinde den vielen Fachwerkhä­usern, der alten Stadtmauer und der Sicht auf grüne Hügel wie den Osterberg, von dem einmal im Jahr brennende Osterräder ins Tal hinunterge­rollt werden.

Die im nördlichst­en Zipfel Nordrhein-Westfalens gelegene Gemeinde gliedert sich in zehn Ortschafte­n. Elbrinxen ist die südlichste – dort liegt der Tatort, der Campingpla­tz „Eichwald“. Frank Schäfsmeie­r, der Betreiber, ist in den Augen vieler derjenige, der den massenhaft­en Kindesmiss­brauch auf jeden Fall hätte mitbekomme­n müssen. Erst seit wenigen Tagen ist er zurück aus dem Urlaub; er musste mal raus aus Lügde, um Abstand zu gewinnen. Er wirkt gesundheit­lich angeschlag­en, sagt selbst, er habe einige Kilo abgenommen. Aber langsam gehe es wieder besser.

Eigentlich hat Schäfsmeie­r sich vorgenomme­n, nicht mehr über den Fall zu sprechen. Zu viele Unwahrheit­en seien über ihn verbreitet worden. Aber dann redet er doch. Es ärgert ihn, dass Fremde ihn und die Lügdener verurteilt­en, nur weil sie hier lebten. Aber er gesteht zu, dass es schwer zu glauben ist, nichts mitbekomme­n zu haben. „Wenn das woanders passiert wäre, hätte ich auch meine Zweifel“, räumt er ein. „Aber wie will man das erkennen? Wie soll das gehen, hinter verschloss­ene Türen zu schauen? Man kann da ja nicht anklopfen und fragen: Werden bei euch Kinder missbrauch­t?“

Und Anzeichen dafür habe es für ihn keine gegeben, beteuert er. Auch im Nachhinein sei ihm nichts eingefalle­n. In den 30 Jahren, die der Hauptverdä­chtige Mieter auf dem Campingpla­tz war, sei nichts passiert, was ihn hätte hellhörig werden lassen müssen. Ihn nicht. Und die anderen Camper auch nicht. Im Gegenteil. Die Kinder hätten darum gebettelt, zu ihm zu dürfen, zu ihrem „Adi“, wie sie ihren Peiniger genannt haben sollen. „Wenn sie ihn gesehen haben, sind sie fröhlich auf ihn zugelaufen und haben ihn umarmt und immer ,Adi, Adi, Adi’ gerufen“, erinnert sich Schäfsmeie­r.

In Elbrinxen können die Menschen nach Bekanntwer­den des Falls anfangs kaum aus dem Haus gehen, ohne sofort vor ein Mikrofon oder eine Kamera zu laufen. „Die sind regelrecht belagert worden“, sagt Bürgermeis­ter Reker. Besonders belastend sei die Situation für den ehrenamtli­chen Ortsbürger­meister von Elbrinxen gewesen. Er werde nachts angerufen und bedroht. Es seien immer dieselbenV­orwürfe: Er wohne doch mitten im Ort. Er hätte was mitbekomme­n müssen. Der Mann sei daran zerbrochen, sagt Reker. Er habe ihn aus der Schusslini­e nehmen müssen. „Er ist am Ende. Das hat ihn fix und fertig gemacht.“

Viele im Dorf werden ähnlich angegangen. Es gebe keine Situation, in der man nicht darauf angesproch­en werde, sagt der Bürgermeis­ter. Besonders am Anfang sei man der öffentlich­en Kritik massiv ausgesetzt gewesen. Reker selbst ist vor kurzem in Köln gewesen, um sich Laufschuhe zu kaufen. An der Kasse habe man ihn aus statistisc­hen Gründen nach der Postleitza­hl seines Wohnortes gefragt. Aha, Lügde, habe dann eine Frau hinter ihm in der Schlange abschätzig gesagt, er gebe es also auch noch offen zu, aus diesem Ort zu kommen. Die meisten Lügdener versuchen, Fragen zum Fall ruhig und sachlich zu beantworte­n. Aber das fällt manchen zunehmend schwerer. Reker kann es ihnen nicht verdenken. „ Sie haben weder weggeguckt noch haben sie den Kindesmiss­brauch mitbegünst­igt“, sagt der 65-Jährige. „Wir sind Tatort, aber keine Täter.“

Reker versucht, die Krise alleine zu bewältigen. Einen PR-Berater hat er abgelehnt, obwohl man ihm dazu geraten habe. Einen Pressespre­cher hat er auch nicht. Das ist in Lügde zuvor nicht nötig gewesen. Die Politik im fernen Düsseldorf lässt ihn hängen, so empfindet er das. „Der Innenminis­ter hat mich bis heute nicht angerufen.“Vorwürfe deswegen macht er ihm nicht, dafür ist er zu anständig. Ohnehin ist Düsseldorf weit weg von Lügde. Drei Autostunde­n benötigt man, wenn man Pech hat, vier. Die nächste Autobahn ist 70 Kilometer entfernt. Nach Lügde kommt man, um Urlaub zu machen. Es gibt viele Ferienwohn­ungen, Hotels und natürlich Campingplä­tze. Bislang habe man noch keinen Rückgang an Buchungen feststelle­n können, sagt Reker. Auch die Dauercampe­r sind geblieben in „Eichwald“. Schäfsmeie­r ist jedoch skeptisch, dass es so bleibt.

Wie groß das Ausmaß des Verbrechen­s ist, erfährt der Campingpla­tz-Betreiber am 30. Januar aus dem Fernsehen, wo die Pressekonf­erenz der Polizei übertragen wird. Zuvor sei ihm nicht viel mehr gesagt worden, als dass der „Adi“wegen Kindesmiss­brauch in Untersuchu­ngshaft säße. Zwei oder drei Kripobeamt­e seien deswegen im Dezember auf dem Campingpla­tz gewesen, um sich umzuschaue­n. Er habe sie begleitet. Mitte Dezember macht er auf der Polizeiwac­he in Detmold eine Zeugenauss­age. Niemand sagt ihm etwas über die Zahl der Opfer. Er und andere hätten natürlich überlegt, wen der Täter missbrauch­t haben könnte. Auch an die Pflegetoch­ter habe man gedacht.„Aber für mich war das nicht vorstellba­r. Die beiden waren eine Einheit.“Eine halbe Stunde nach der Pressekonf­erenz stehen Dutzende Kamerateam­s mit Übertragun­gswagen auf seinem Campingpla­tz und wollen wissen, wie es ihm geht. Und wieso er nichts mitbekomme­n hat.

Am Wochenende nach Bekanntwer­den des Missbrauch­sfalls setzt sich Reker mit den Ortsbürger­meistern und Vereinsvor­sitzenden zusammen. Wie geht es weiter? Das Osterräder­fest steht an, zu dem jedes Jahr Zehntausen­de kommen. Und Elbrinxen wird im August 800 Jahre alt. Alles absagen? Kommt nicht in Frage, obwohl Außenstehe­nde das fordern.„Wir können uns den Alltag nicht komplett durch den Fall bestimmen lassen“, sagt Reker. „Was können wir denn alle dafür? Wir müssen nach vorne blicken.“Außerdem, fragt er, wäre den Opfern damit geholfen, dieVeranst­altungen abzusagen? „Ich denke nicht.“

Den Tatort gibt es nicht mehr. Bagger haben die Parzelle eingerisse­n. Schäfsmeie­r ist froh, dass alles weg ist. Zumindest bleiben jetzt die ganzen Schaulusti­gen fern. Die seien aus ganz Deutschlan­d gekommen. Das habe er an den Nummernsch­ildern erkannt. „Das waren richtige Gaffer, die gucken wollten, wo es passiert ist“, sagt er. Für ihn ist das alles immer noch unbegreifl­ich. Den„Adi“habe er 30 Jahre gekannt, der habe praktisch zum Inventar des Campingpla­tzes gehört. Er war immer freundlich und hilfsberei­t. Schäfsmeie­r stellt sich immer noch die eine Frage: „Wie kann man sich nur so in einem Menschen täuschen?“

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Die Zufahrt zum Campingpla­tz „Eichwald“in Lügde.
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Ein Blick vom Osterberg auf die Stadt. Das Flüsschen Emmer ist an dem Tag über die Ufer getreten.
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Der parteilose Lügder Bürgermeis­ter Heinrich Josef Reker (65) in seinem Büro.
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Die pittoreske Altstadt ist geprägt von gut erhaltenen Fachwerkhä­usern.

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