Rheinische Post

Ein Buch zieht in die Welt hinaus

Elf Übersetzer arbeiten im Europäisch­en Übersetzer-Kollegium in Straelen am „Verzeichni­s einiger Verluste“von Judith Schalansky.

- VON LOTHAR SCHRÖDER FOTO GOTTFRIED EVERS

STRAELEN Zwölf Uhr mittags in Straelen. Das Geläut der Kirche von St. Peter und Paul macht der außerorden­tlichen Tageszeit alle Ehre, und während draußen direkt vor dem Fenster noch dazu ein Trecker vorbeiratt­ert, wird drinnen – im Haus an der Kuhstraße – ein bisschen Weltlitera­tur fabriziert. Aus Schweden und Griechenla­nd, England und China, aus Thailand und der Mongolei sind Übersetzer an den Niederrhei­n gekommen, um mit der Autorin eins der ungewöhnli­chsten Bücher des vergangene­n Jahres zu übersetzen: das „VerJudith Schalansky

zeichnis einiger Verluste“von Judith Schalansky. Vier Tage lang wird sie mit den Übersetzer­n am Buch arbeiten: Seite für Seite, Zeile für Zeile, und damit alle ganz genau wissen, wo man gerade ist, liegt allen Büchern ein kleines, papiernes Zeilen-Maßband bei.

Übersetzen ist Kopf- und Handarbeit – und diesmal richtig anstrengen­d. Denn in der 18. Werkstatt im Europäisch­en Übersetzer-Kollegium liegt ein Buch auf dem Tisch, das seine Faszinatio­n auch aus der mitunter kuriosen Sprache gewinnt und unsere Neugier weckt mit Dingen, die allesamt verschwund­en sind, wenigstens abwesend oder verstummt.

Solche Verlustanz­eigen können Chen Zao kaum irritieren: Für sie gehört das Abwesende zur Grundidee des Buddhismus. Es nütze nichts, etwas auf der Welt zu behalten; und auch der Körper sei letztlich bloß eine Hülle, sagt die Übersetzer­in aus China. Das kennen wir von der unsterblic­hen Seele im Christentu­m, so Schalansky. Nicht ganz, so Chen Zao, denn eigentlich existiert rein gar nichts, denn alles ist Phantasie. Da fehlen selbst Schalansky für ein paar Sekunden die Worte. „Ist das cool“, sagt sie schließlic­h. Am Leben zu sein bedeutet, Verluste zu erfahren, heißt es im Buch. Nichts könne im Schreiben zurückgeho­lt, aber doch alles erfahrbar werden. Und vielleicht arbeiten genau deshalb Autorin und Übersetzer so konzentrie­rt. Weil am ersten von vier Arbeitstag­en alle noch frisch sind, beginnt die Gruppe mit dem schwierige­n letzten Kapitel – auf Vorschlag Schalansky­s. „Dann haben wir das Schlimmste hinter uns.“Allein an diesen 15 Seiten haben sie neun Monate gearbeitet, an dem Bericht des Suhler Pfarrers und Freizeit-Astronomen Gottfried Adolf Kinau, der über die Erde und sein Leben vom Mond aus berichtet. Klingt verrückt und ist es auf spannende Weise auch. Außerdem ist es ein echter Übersetzun­gsbrocken. Was zum Beispiel ist mit dem Begriff des„Vormärz“? Deutsche Leser mögen die Zeitspanne vielleicht kennen, aber auch Chinesen? Das gibt Goverdien Hauth-Grubben zu bedenken, die nun nicht im fernen Osten, sondern im nahen Westen beheimatet ist, den Niederland­en. „Ich will keine Fußnoten“, sagt Schalansky. Und eigentlich sei es gar nicht so wichtig, genau zu wissen, was damit gemeint sei. Vielmehr ist es „ein literarisc­hes Signal für eine bestimmte, vor allem vergangene Zeit“.

Dann wird es mühsam.Was ist ein „Augenmerk“, was ist der „Holzfrevel“? Und kurz vor Schluss des Kapitels wird eine Passage nur noch verständli­ch mit der zusätzlich­en Lektüre der biblischen Offenbarun­g des Johannes. Moderatori­n Renate Birkenhaue­r, die bei allen 18 Werkstattg­esprächen schon dabei war, liest schnell die Passage vor, und ein endzeitlic­hes Grauen macht sich für kurze Zeit im Bibliothek­sraum breit. Zurück bleibt aber eine Ahnung davon, wie kränkend die Einsicht sein kann, sterblich zu sein.

Übersetzen ist Dichten und Denken. „Schreiben ist eine ungemein einsame Angelegenh­eit“, sagt uns Judith Schalansky am Rande. „Und jetzt erlebe ich, wie alle hier das Buch neu schreiben.“Das geht auch gar nicht anders, es ist den Sprachen dieser Welt geschuldet. Wenn etwa Prodpran Arunyig für sich eine Lösung finden muss, wie sie das Erzähler-Ich im Buch übersetzt. Zwar gibt es im Thailändis­chen keine Zeitformen, dafür aber 20 verschiede­ne

Ichs. Auch dabei werde deutlich, wie sehr unsere Sprachwelt unser Denken bestimme, sagt die Autorin.

Für die gemeinsame öffentlich­e Lesung am Abend hat sich die Gruppe ein kleines Spiel ausgedacht: Alle Übersetzer lesen in ihrer Sprache einen Satz aus dem „Verzeichni­s einiger Verluste“vor. Es ist wie bei „Stille Post“: Zunächst glaubt man dies und jenes noch wiederzuer­kennen, am Ende klingt nur noch Fremdes im Ohr, was zuvor vertraut gewesen ist.

Ein literarisc­hes Werk geht in die Welt hinaus, und Straelen ist sein Ausgangspu­nkt. Dort wird ersonnen und getextet, was in ein oder zwei Jahren in sehr fernen Ländern und fremden Kulturen manche Menschen lesen und beschäftig­en wird. Zumindest in diesem kühnen Moment will man nicht so recht anVerluste glauben, die unwiederbr­inglich sein sollen.

Und dann gibt es auch noch eine Belohnung für alle Übersetzun­gs-Anstrengun­gen: kurz vor der Mittagspau­se mit einem der kürzesten Sätze des ganzen Buches: „Es war eine gute Zeit.“

„Schreiben ist eine einsame Angelegenh­eit. Und jetzt erlebe ich, wie alle hier das Buch neu schreiben“

 ??  ?? Autorin Judith Schalansky (38, re.) mit den Übersetzer­innen und Übersetzer­n (von links) Prodpran Arunyig (Thailand), Naoko Hosoi (Japan), Undrakh Batsuuri (Mongolei) und Flavia Pantanella (Italien).
Autorin Judith Schalansky (38, re.) mit den Übersetzer­innen und Übersetzer­n (von links) Prodpran Arunyig (Thailand), Naoko Hosoi (Japan), Undrakh Batsuuri (Mongolei) und Flavia Pantanella (Italien).

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