Als der Wagen nicht kam
Roman Folge 47
Er muss auch trotz aller selbstverständlichen Zurückhaltung in seinen Äußerungen kein Anhänger des Nationalsozialismus gewesen sein, weil er seine katholische Überzeugung nicht verhehlte. Obschon er in Mischehe lebte, ging er sonntags mit seinen Kindern regelmäßig zur Kirche im Grunewald, wo er wohnte. Auch im Führerhauptquartier fuhr er sonntags regelmäßig zur Kirche, wie mir mehrfach von Herren des Stabes erzählt wurde. In einer Hinsicht war er jedenfalls ein folgsamer Schüler Hitlers, nämlich in der souveränen Nichtachtung des Rechts. Ich habe des Öfteren auf Vortragsnotizen, die ich aus Wolfsschanze zurückerhielt, Vermerke von seiner Hand gesehen: „Das ist juristisch und nicht militärisch gedacht“oder „im Krieg gilt der Erfolg und nicht das Recht“oder „juristische Haarspalterei“oder „immer dies Juristendeutsch“. Ich habe zu wenig persönliche Berührung mit Warlimont gehabt, um bei seiner schillernden Persönlichkeit beurteilen zu können, ob dieses Einstimmen auf Hitlers Lieblingsthema etwa Tarnung nach oben oder Ausdruck wirklicher Überzeugung oder überhebliches Militärgeschwätz war. Dass er besseres Ahnungsvermögen hinsichtlich der politischen Entwicklung gehabt hat als Keitel und Jodl zeigt der Umstand, dass er im letzten Kriegsjahr intensiv – ganz zum Schluss auch mit Erfolg – versucht hat, aus seiner Stellung wegen Krankheit auszuscheiden, hinsichtlich deren allgemein die Überzeugung herrschte, dass es ein vorgeschobener Grund sei. Hätte er aus Überzeugung sein Amt aufgeben wollen, so wäre der Anlass dazu bereits jahrelang vorher gegeben ge
wesen. Daher kann man nur folgern, dass er den Zusammenbruch voraussah und beim großen Halali nicht in der Raubtierhöhle angetroffen werden wollte. Vermutlich haben ihn diese Versuche zum Ausscheiden aus der belastenden Stellung in Nürnberg vor dem Galgen gerettet, so dass er mit einer Freiheitsstrafe davonkam und nach einiger Zeit entlassen wurde.
Außer der Bewirtschaftung von Menschen und Material hatte die Standortstaffel noch ein juristisches Arbeitsgebiet, nämlich die Bearbeitung der Entwürfe für Gesetze und Führererlasse, zu denen die Zustimmung von Chef OKW in seiner kriegsministeriellen Aufgabe eingeholt werden musste. Unmittelbar bearbeitet wurden dort auch die Vorschriften für das Reichsleistungsgesetz und das Kriegssachschädenrecht. Diese Zuständigkeitsregelung war etwas seltsam, da diese Materie normalerweise in die Zuständigkeit der einzelnen Ämter des OKW wie Wehrmacht-Allgemeines-Verwaltung oder Rechtsamt gehört hätten. Es war aber ein guter Gedanke, diese Dinge demWehrmachtführungsstab vorzubehalten, um sicherzustellen, dass die militärische Führung ihre Interessen auf diesem maßgeblichen Gebiet unmittelbar wahren konnte. Auch politisch war es nützlich, denn der Geist des Wehrmachtführungsstabes war zwangsläufig in erster Linie soldatisch und war weniger vom Nationalsozialismus infiziert als die andern Ämter des OKW, in denen die Militärbeamten herrschten.
Die Zuweisung der rechtlichen Materie an den Wehrmachtführungsstab lag hauptsächlich an einer Personenfrage, nämlich dem Oberst von Steinwehr, der sich dieses Gebiet als für die übrigen Offiziere undurchsichtige Materie für sich geschaffen und zu angenehmer Betätigung gehütet hatte. Steinwehr war klug – deshalb faul – und Jurist. Er stammte aus dem 2. Garderegiment, dem zweitbesten Regiment der Christenheit in seiner Sprache, und besaß alle guten Seiten dieser Tradition ohne deren Nachteile. Nach dem ersten Krieg hatte er als Hauptmann Jura studiert, das Assessorexamen bestanden und sich in der neuen Wehrmacht reaktivieren lassen. Mit seinen soliden alten soldatischen Ansichten und seiner vornehmen Lebensauffassung passte er nicht in das neue totalitäre Militärwesen, in dem die ehrgeizigen Ellenbogenfechter in der Vorhand waren, die es 1918 fertiggebracht hatten, unter Beiseiteschieben der feiner gearteten Kameraden in die Reichswehr übernommen zu werden und jetzt in der Wehrmacht die Klasse der Generale darstellten. Er kam daher bei der Wehrmacht nicht recht voran. Da er Jurist geworden war, traute man seinen soldatischen Eigenschaften nicht und blickte misstrauisch auf seine den Offiziersdurchschnitt übersteigende allgemeine Bildung. Zudem hatte er Rückgrat nach oben und Vorgesetzte imponierten ihm nicht. Ein geeigneter Untergebener für Warlimont war er also nicht.
Steinwehr hatte einen fröhlichen Sinn und konnte herrliche Kasinowitze erzählen, erfinden und als Komiker zur lebendigen Darstellung bringen. Er hätte mit diesem angeborenen Talent Furore als Conférencier in einem Kabarett oder heute im Fernsehen gemacht. Für einen totalitären Soldaten war das aber kein Vorzug, zumal er in seine Erzählungs- und Darstellungskunst auch Hitler, Keitel und Warlimont einbezog, was letzterem sicher nicht unbekannt geblieben ist. Wenn er vormachte, wie Hitler vor Wut in den Teppich beißt, oder wenn er Warlimonts Geschwollenheit nachahmte, blieb kein Auge trocken. Man konnte seine Geschichten auch ruhig mehrfach anhören wegen der köstlichen Form der Darstellung. Ein Glanzstück seines reichen Repertoires war der Besuch Eduards VII. beim Kaiser in Berlin, wobei Steinwehr als Leutnant Dienst gehabt hatte. Von der Ankunft des Königs auf dem Bahnhof Friedrichstraße ab brachte er alle Beteiligten zu mimischer Darstellung einschließlich Geräuschkulisse für Lokomotive, Pferdegetrappel und Musik und selbst vor „Ihrer Majestät der Kaiserin mit einem wogenden Straußenfederrad auf dem Kopf und einem Veilchenstrauß an dem engkorsettierten allerhöchst wogenden Busen“machte er bei seiner Mimik keinen Halt. Er war bei all dieser Spaßhaftigkeit treu wie Gold und hilfsbereit bis zum Letzten.
Meine Tätigkeit war vielseitig, interessant und bot mehr Gelegenheit zu sachlicher Einflussnahme, als ich geglaubt hatte. Obschon die Arbeit unmittelbar nichts mit operativen Dingen zu tun hatte, erhielt man trotzdem zwangsläufig eine gewisse Einsicht hinsichtlich des kriegerischen Geschehens. Als höchst seltsam bei meiner Einberufung zum Wehrmachtführungsstab erschien mir der Umstand, dass ich vor meinem Eintritt in diese eigentliche Höhle des Löwen offenbar in keiner Weise auf meine politische Zuverlässigkeit hin überprüft worden war. (Fortsetzung folgt)