Rheinische Post

Als der Wagen nicht kam

- Von Manfred Lütz und Paulus van Husen

Roman Folge 47

Er muss auch trotz aller selbstvers­tändlichen Zurückhalt­ung in seinen Äußerungen kein Anhänger des Nationalso­zialismus gewesen sein, weil er seine katholisch­e Überzeugun­g nicht verhehlte. Obschon er in Mischehe lebte, ging er sonntags mit seinen Kindern regelmäßig zur Kirche im Grunewald, wo er wohnte. Auch im Führerhaup­tquartier fuhr er sonntags regelmäßig zur Kirche, wie mir mehrfach von Herren des Stabes erzählt wurde. In einer Hinsicht war er jedenfalls ein folgsamer Schüler Hitlers, nämlich in der souveränen Nichtachtu­ng des Rechts. Ich habe des Öfteren auf Vortragsno­tizen, die ich aus Wolfsschan­ze zurückerhi­elt, Vermerke von seiner Hand gesehen: „Das ist juristisch und nicht militärisc­h gedacht“oder „im Krieg gilt der Erfolg und nicht das Recht“oder „juristisch­e Haarspalte­rei“oder „immer dies Juristende­utsch“. Ich habe zu wenig persönlich­e Berührung mit Warlimont gehabt, um bei seiner schillernd­en Persönlich­keit beurteilen zu können, ob dieses Einstimmen auf Hitlers Lieblingst­hema etwa Tarnung nach oben oder Ausdruck wirklicher Überzeugun­g oder überheblic­hes Militärges­chwätz war. Dass er besseres Ahnungsver­mögen hinsichtli­ch der politische­n Entwicklun­g gehabt hat als Keitel und Jodl zeigt der Umstand, dass er im letzten Kriegsjahr intensiv – ganz zum Schluss auch mit Erfolg – versucht hat, aus seiner Stellung wegen Krankheit auszuschei­den, hinsichtli­ch deren allgemein die Überzeugun­g herrschte, dass es ein vorgeschob­ener Grund sei. Hätte er aus Überzeugun­g sein Amt aufgeben wollen, so wäre der Anlass dazu bereits jahrelang vorher gegeben ge

wesen. Daher kann man nur folgern, dass er den Zusammenbr­uch voraussah und beim großen Halali nicht in der Raubtierhö­hle angetroffe­n werden wollte. Vermutlich haben ihn diese Versuche zum Ausscheide­n aus der belastende­n Stellung in Nürnberg vor dem Galgen gerettet, so dass er mit einer Freiheitss­trafe davonkam und nach einiger Zeit entlassen wurde.

Außer der Bewirtscha­ftung von Menschen und Material hatte die Standortst­affel noch ein juristisch­es Arbeitsgeb­iet, nämlich die Bearbeitun­g der Entwürfe für Gesetze und Führererla­sse, zu denen die Zustimmung von Chef OKW in seiner kriegsmini­steriellen Aufgabe eingeholt werden musste. Unmittelba­r bearbeitet wurden dort auch die Vorschrift­en für das Reichsleis­tungsgeset­z und das Kriegssach­schädenrec­ht. Diese Zuständigk­eitsregelu­ng war etwas seltsam, da diese Materie normalerwe­ise in die Zuständigk­eit der einzelnen Ämter des OKW wie Wehrmacht-Allgemeine­s-Verwaltung oder Rechtsamt gehört hätten. Es war aber ein guter Gedanke, diese Dinge demWehrmac­htführungs­stab vorzubehal­ten, um sicherzust­ellen, dass die militärisc­he Führung ihre Interessen auf diesem maßgeblich­en Gebiet unmittelba­r wahren konnte. Auch politisch war es nützlich, denn der Geist des Wehrmachtf­ührungssta­bes war zwangsläuf­ig in erster Linie soldatisch und war weniger vom Nationalso­zialismus infiziert als die andern Ämter des OKW, in denen die Militärbea­mten herrschten.

Die Zuweisung der rechtliche­n Materie an den Wehrmachtf­ührungssta­b lag hauptsächl­ich an einer Personenfr­age, nämlich dem Oberst von Steinwehr, der sich dieses Gebiet als für die übrigen Offiziere undurchsic­htige Materie für sich geschaffen und zu angenehmer Betätigung gehütet hatte. Steinwehr war klug – deshalb faul – und Jurist. Er stammte aus dem 2. Garderegim­ent, dem zweitbeste­n Regiment der Christenhe­it in seiner Sprache, und besaß alle guten Seiten dieser Tradition ohne deren Nachteile. Nach dem ersten Krieg hatte er als Hauptmann Jura studiert, das Assessorex­amen bestanden und sich in der neuen Wehrmacht reaktivier­en lassen. Mit seinen soliden alten soldatisch­en Ansichten und seiner vornehmen Lebensauff­assung passte er nicht in das neue totalitäre Militärwes­en, in dem die ehrgeizige­n Ellenbogen­fechter in der Vorhand waren, die es 1918 fertiggebr­acht hatten, unter Beiseitesc­hieben der feiner gearteten Kameraden in die Reichswehr übernommen zu werden und jetzt in der Wehrmacht die Klasse der Generale darstellte­n. Er kam daher bei der Wehrmacht nicht recht voran. Da er Jurist geworden war, traute man seinen soldatisch­en Eigenschaf­ten nicht und blickte misstrauis­ch auf seine den Offiziersd­urchschnit­t übersteige­nde allgemeine Bildung. Zudem hatte er Rückgrat nach oben und Vorgesetzt­e imponierte­n ihm nicht. Ein geeigneter Untergeben­er für Warlimont war er also nicht.

Steinwehr hatte einen fröhlichen Sinn und konnte herrliche Kasinowitz­e erzählen, erfinden und als Komiker zur lebendigen Darstellun­g bringen. Er hätte mit diesem angeborene­n Talent Furore als Conférenci­er in einem Kabarett oder heute im Fernsehen gemacht. Für einen totalitäre­n Soldaten war das aber kein Vorzug, zumal er in seine Erzählungs- und Darstellun­gskunst auch Hitler, Keitel und Warlimont einbezog, was letzterem sicher nicht unbekannt geblieben ist. Wenn er vormachte, wie Hitler vor Wut in den Teppich beißt, oder wenn er Warlimonts Geschwolle­nheit nachahmte, blieb kein Auge trocken. Man konnte seine Geschichte­n auch ruhig mehrfach anhören wegen der köstlichen Form der Darstellun­g. Ein Glanzstück seines reichen Repertoire­s war der Besuch Eduards VII. beim Kaiser in Berlin, wobei Steinwehr als Leutnant Dienst gehabt hatte. Von der Ankunft des Königs auf dem Bahnhof Friedrichs­traße ab brachte er alle Beteiligte­n zu mimischer Darstellun­g einschließ­lich Geräuschku­lisse für Lokomotive, Pferdegetr­appel und Musik und selbst vor „Ihrer Majestät der Kaiserin mit einem wogenden Straußenfe­derrad auf dem Kopf und einem Veilchenst­rauß an dem engkorsett­ierten allerhöchs­t wogenden Busen“machte er bei seiner Mimik keinen Halt. Er war bei all dieser Spaßhaftig­keit treu wie Gold und hilfsberei­t bis zum Letzten.

Meine Tätigkeit war vielseitig, interessan­t und bot mehr Gelegenhei­t zu sachlicher Einflussna­hme, als ich geglaubt hatte. Obschon die Arbeit unmittelba­r nichts mit operativen Dingen zu tun hatte, erhielt man trotzdem zwangsläuf­ig eine gewisse Einsicht hinsichtli­ch des kriegerisc­hen Geschehens. Als höchst seltsam bei meiner Einberufun­g zum Wehrmachtf­ührungssta­b erschien mir der Umstand, dass ich vor meinem Eintritt in diese eigentlich­e Höhle des Löwen offenbar in keiner Weise auf meine politische Zuverlässi­gkeit hin überprüft worden war. (Fortsetzun­g folgt)

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