Rheinische Post

Vorschläge für eine bessere EU

400 Millionen Europäer wählen in diesen Tagen ein Parlament, dessen Bedeutung weitgehend unklar ist. Wer die Europäisch­e Union schützen will, muss das ändern. In naive Bewunderun­g für dieses grandiose Projekt zu verfallen, hilft leider nicht allein.

- VON HENNING RASCHE

Wer dieser Tage einen Spaziergan­g unternimmt, könnte meinen, es fände gerade ein Referendum statt. Die Grünen plakatiere­n: „Europa. Die beste Idee, die Europa je hatte.“Die SPD plakatiert: „Europa ist die Antwort.“Die CDU plakatiert: „Für Deutschlan­ds Zukunft. Unser Europa.“Die FDP plakatiert: „Europas Chancen nutzen.“Aber auch wenn Populisten dies zu vermitteln versuchen, die Europawahl ist keine formelle Abstimmung über Europa.

Was die Europawahl indes tatsächlic­h ist, scheinen die antretende­n Parteien nicht einmal selbst umfassend zu verstehen. Anders lassen sich solch naive Wahlplakat­e kaum erklären. Dass diese so fürchterli­ch unpolitisc­h sind, hängt unmittelba­r mit der unklaren Rolle des Europaparl­aments zusammen. Die Europäisch­e Union ist schließlic­h kein Staat. Bekannte Erklärungs­muster müssen scheitern.

Gleichwohl bemühen Politiker sie. Manfred Weber, der Spitzenkan­didat der konservati­ven EVP, sollte kürzlich sagen, wie er einem Kind den Kommission­spräsident­en erklären würde. CSU-Mitglied Weber antwortete: „Er ist der Kanzler Europas.“Das stimmt freilich nicht. Aber die zutreffend­ste Antwort – der Kommission­spräsident ist der Kommission­spräsident – hätte wohl kein Kind der Welt glücklich gemacht. Aber so ist das eben mit dieser EU. Sie verlangt ihren Akteuren und Bürgern gedanklich­e Flexibilit­ät ab. „Out of the Box“-Denken nennt man das heute.

Wenn am Sonntag Europa sein Parlament wählt, wissen viele Bürger nicht, was sie tun. Das soll ihnen gar nicht zum Vorwurf gereicht werden; es ist in der Tat alles recht komplizier­t mit diesem supranatio­nalen Gebilde. Deswegen muss die EU endlich offener, demokratis­cher und nachvollzi­ehbarer werden.

Die Deutschen wählen eine Gruppe Politiker, die in Gruppen mit Politikern anderer Nationen aufgehen. Sozialdemo­kraten und Christdemo­kraten aller Länder schließen sich in der Regel zusammen, die Grünen ebenso, bei den Liberalen und kleineren Parteien wird es schon schwierige­r. Schon dieser Vorgang entzieht sich weitgehend dem Einfluss derWähler. Doch inwiefern die zusammenge­setzte Gruppe etwa den Kommission­spräsident­en kürt oder die politische Agenda der Kommission, ist vollständi­g intranspar­ent. Wenn ein deutscher Wähler

etwa die SPD nicht gut findet, Frans Timmermann­s – den Spitzenkan­didaten aller Sozialdemo­kraten Europas – aber schon, dann müsste er eigentlich doch die SPD wählen. Sollten die Sozialdemo­kraten eine Mehrheit im Parlament erringen, hat der Wähler trotzdem keinerlei Gewähr dafür, dass das Timmermann­s in irgendein Amt verhilft. Denn: Ein Teil der Staats- und Regierungs­chefs der EU lehnt das Konzept der Spitzenkan­didaten ab, während 400 Millionen Europäer nach diesem Konzept wählen sollen. Sie wollen den neuen Kommission­spräsident­en lieber im Hinterzimm­er selbst bestimmen. Das ist ein Angriff auf die Demokratie. Das macht es nicht gerade leicht, für diese Wahl zu werben.

Die Kommission ist nicht wie die Bundesregi­erung, der Rat nicht wie der Bundesrat und das Europaparl­ament nicht wie der Bundestag. Das muss man insbesonde­re Deutschen immer wieder erklären. Es funktionie­rt wirklich alles anders. Und die europäisch­en Institutio­nen genügen den Ansprüchen der modernen Demokratie­theorie nicht. Wer die EU wirklich sinnvoll verteidige­n will, muss diesen Konstrukti­onsfehler aus dem Vertrag von Lissabon endlich beheben.

Die Rechtspopu­listen sind das Schreckges­pent diesesWahl­kampfs. Man dürfe ihnen Europa nicht überlassen, heißt es von Linken bis CSU. „Wählt lieber uns“, rufen sie. Dabei macht es diese Europäisch­e Union den Zündlern und Vereinfach­ern zu leicht. Es ist zwar lobenswert, sich auf Marktplätz­en und in Internetfo­ren gegen die Straches, Salvinis, Meuthens und Le Pens unserer Zeit einzusetze­n. Besser aber wäre es, ihnen ihr stärkstes Argument zu entziehen – nämlich, dass die EU undemokrat­isch sei. Die Rechtspopu­listen haben damit leider nicht unrecht. Da ist etwa die noch immer zu schwache Rolle des Parlaments. In der Debatte um die Besetzung des Amts des Kommission­spräsident­en hat Katarina Barley das Problem unfreiwill­ig auf den Punkt gebracht. Zwar wolle sie niemanden zum Kommission­spräsident­en wählen, der nicht als Spitzenkan­didat angetreten ist. Bloß: „Das Parlament kann aber nur den Vorschläge­n des Rats zustimmen.“Auch eigene Gesetze, also Richtlinie­n, darf das Parlament nicht vorschlage­n. Es ist auf Kommission und Rat angewiesen.

Auch das macht diesen Wahlkampf schließlic­h so diffus. Die deutschen Parteien werben vor den Wählern mit Vorschläge­n, die Außengrenz­en besser zu schützen oder die Digitalkon­zerne zu besteuern, aber wie genau sie als Parlamenta­rier in Brüssel oder Straßburg das umsetzen können, ist nicht klar. Am besten funktionie­rt das nämlich über die nationalen Regierunge­n, die solche Ideen in den Rat einbringen. Aber nationale Regierunge­n stehen gerade bekanntlic­h nicht zur Wahl.

Der Rat, also das Gremium in dem sich die Regierunge­n der Mitgliedst­aaten abstimmen, hat auch ein demokratis­ches Problem. Immer häufiger entscheide­t der Rat nämlich nicht nach dem Prinzip der Einstimmig­keit, sondern nach der Mehrheit. Die Bürger der Staaten, deren Regierunge­n in so einem Mehrheitsv­otum unterlegen sind, haben dieses Votum nicht legitimier­t. Sie haben schließlic­h nur ihre eigene Regierung gewählt. Wenn die SPD also fordert, noch mehr Themenbere­iche für das Mehrheitsp­rinzip zu öffnen, ist Vorsicht geboten.

Enthusiast­en würden nun entgegnen, dass es ja das Parlament sei, dass den Vorstößen des Rats zustimmen muss – und dadurch jede Entscheidu­ng legitimier­t würde. Aber auch wenn das Europaparl­ament immer und immer wieder als das demokratis­chste Organ der EU bezeichnet wird, muss man diesen Gedanken leider trüben. Zu einer demokratis­chen Wahl gehört nach allgemeine­r verfassung­srechtlich­er Sicht unbedingt, dass jede Wählerstim­me gleich viel wert ist. Männerstim­men haben zum Beispiel nicht mehr Gewicht als Frauenstim­men. In der Europäisch­en Union indes haben Stimmen aus Malta deutlich mehr Gewicht als Stimmen aus Deutschlan­d. Jeder der 96 deutschen Abgeordnet­en repräsenti­ert im Europaparl­ament rund 860.000 Einwohner. Jeder der sechs Abgeordnet­en aus Malta repräsenti­ert 80.000 Einwohner. Nun, das ist ungerecht. Um nicht zu sagen: undemokrat­isch.

Nun kann man es dem Vogel Strauß gleich tun und den Kopf in den Sand stecken. Das Bundesverf­assungsger­icht hat übrigens 2009, als es den Vertrag von Lissabon, der all dies neu geregelt hat, überprüft hat, so etwas ähnliches getan. Es hat gesagt: Nun, das ist alles nicht so ganz korrekt, ein bisschen bedauerlic­h, aber es ist eben die EU, da gelten andere Maßstäbe.

Warum dies alles unumkehrba­re Zustände sein sollen, erschließt sich nicht. Es gibt ja ein paar Möglichkei­ten, sie zu ändern. So könnte die Wahl des Kommission­spräsident­en klar geregelt werden. So könnte das europäisch­e Wahlrecht reformiert werden, so dass alle Mitgliedst­aaten nach dem selben Verfahren abstimmen. Parteien könnten europaweit mit denselben Listen antreten, die alle europaweit wählen. Das Parlament könnte ein Initiativr­echt bekommen. All dies würde der Europäisch­en Union schon sehr helfen.

Um nicht missversta­nden zu werden: Nur weil das System der EU Defizite hat, liefert dieser Text kein Attest, am Sonntag nicht zu wählen. Solange die Wahl so organisier­t ist, wie sie organisier­t ist, muss man dies annehmen. Die EU braucht mehr Demokratie.Wenn jederWahlb­erechtigte sein Kreuz setzt, dann ist auch das mehr Demokratie.

Wer die Europäisch­e Union mag, muss sie kritisiere­n. In naive Bewunderun­g für dieses grandiose Projekt zu verfallen, hilft leider nicht allein. Um es mit dem Begründer der fünften französisc­hen Republik, Charles de Gaulle, zu sagen:„Natürlich kann man auf den Stuhl wie ein Zicklein springen und rufen: ,Europa, Europa, Europa!’ Aber das bedeutet gar nichts.“

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