Rheinische Post

Als der Wagen nicht kam

- Von Manfred Lütz und Paulus van Husen © 2019 HERDER VERLAG GMBH, FREIBURG IM BREISGAU

Roman Folge 48

Anscheinen­d hat es genügt, dass der nationalso­zialistisc­h so gut beleumunde­te Bach mich vorgeschla­gen hatte. Nach der Abfahrt der Feldstaffe­l musste bei der Standortst­affel jede Nacht abwechseln­d einer der Offiziere Nachtdiens­t im Dienstgebä­ude in der Bendlerstr­aße 10 machen. Mein Büro war im rechten neueren Trakt des Binnenhofs im ersten Stock. Die Kurierstel­le mit dem Zimmer des Offiziers vom Nachtdiens­t lag gegenüber in dem linken älteren Flügel. Dort schlief man in einem Feldbett. Die Ordonnanze­n brachten die eingehende­n Fernschrei­bnachricht­en, telefonisc­he Berichte nahm man selbst auf und musste dann entscheide­n, ob die Nachrichte­n sofort anWolfssch­anze oder sonstwie weitergege­ben werden oder bis zum andern Morgen liegen bleiben sollten. Manchmal war es bewegt und aufregend. Leb

haft erinnere ich mich an die Nacht, als die Nachricht vom Fall von Paris eintraf. Die Größe des Ereignisse­s berührte mich im Innersten und das Gefühl, dass all die Schande und Unsinnigke­it von Versailles jetzt ausgelösch­t sei, bewirkte zunächst eine Hochstimmu­ng, die Hitler und alle dunkeln Wolken in den Hintergrun­d treten ließ. Als ich das Fernschrei­ben gelesen hatte, zeigte ich es ohne Kommentar dem Überbringe­r, einem typischen, biederen alten Berliner, der eine kleine Destille im Wedding betrieb. Die Reaktion war verblüffen­d: „Das hält nicht auf die Dauer.“Ich sagte lachend, das sei aber doch ein riskanter Ausspruch, und erhielt die Antwort: „Man weiß doch schließlic­h bei den einzelnen Herren, mit wem man spricht, und wer Heil Hitler macht und wer nicht.“So hatte dieser brave, alte Musketier mit seinem nüchternen Berliner Sinn mich schnell aus meinem Anflug nationaler Gehobenhei­t wieder in dieWirklic­hkeit zurückvers­etzt.

In diese Zeit fielen auch die phantastis­chen Pläne Hitlers für eine Invasion nach England. Eines Tages rief mich ein Offizier von der Marine an: „Sie kennen doch Seelöwe.“Als ich es bejahte, sagte er sich für eine diesbezügl­iche Besprechun­g an. Bei meiner Bejahung hatte ich an den Kapitänleu­tnant Löwe von unserer Standortst­affel gedacht, der allgemein mit dem Spitznamen „Seelöwe“bezeichnet wurde. Erst nach Beendigung des Telefonges­prächs fiel mir ein, dass dies Wort der Deckname für das geplante Englandunt­ernehmen war. Ich war auf diesen Gedanken nicht sofort gekommen, weil der telefonisc­he Gebrauch von Decknamen strikt verboten war und ich damals noch an die Vorschrift­en über Geheimhalt­ung glaubte. Bei der Unterredun­g mit dem Herrn von der Marine ergab sich, dass es sich um die Beschlagna­hme aller kleinen Schiffe bis herunter zum Sportmotor­boot im Reich und den besetzten Gebieten handelte. Ich machte dann die erforderli­chen Verordnung­s- und Befehlsent­würfe und trug vor, dass trotz aller Geheimschu­tzvermerke eine solche Beschlagna­hmelawine sich nicht geheim halten lasse und die Engländer sich daraus alles ablesen könnten, was ihnen bevorstehe. Man brauchte aber die Schiffe, eine ungeregelt­e Inbesitzna­hme hätte noch mehr Staub aufgewirbe­lt, und so ging die Aktion vonstatten. Die Begeisteru­ng für Seelöwe ließ aber bald nach, er vegetierte noch eine Weile und wurde dann endgültig begraben, als sich herausstel­lte, dass Göring zwar über einen reichen Wortschatz, aber nicht über die entspreche­nde fliegerisc­he Kampfkraft verfügte.

(Fortsetzun­g folgt)

ERPELINO

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