Rheinische Post

Unser Literatur-Thermomete­r

Auch Bücher haben ihre Temperatur­en. Sie spielen in Wüsten oder in Eiswelten, sind hitzig oder frostig. Und wir, ihre Leser, bibbern und schwitzen mit ihnen. Eine Betrachtun­g übers Lesen in Zeiten der Hitze.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Lesen in Zeiten der Hitze geht ungefähr so:Weil alle die Sommerzeit zur Lesezeit deklariere­n, steckt man auch ein Buch in die Badetasche und widmet sich – so die Vorstellun­g – auf irgendeine­r der idyllische­n Liegewiese­n bei leichtem Wind und sanftem Blätterrau­schen der Lektüre. Herrlich! Wenn nicht gerade die ballspiele­nden Kinder ein paar Meter weiter wären. Außerdem blendet das Licht doch ein wenig, so dass eine Hand als Sonnenschu­tz dienen muss, um überhaupt etwas entziffern zu können. Die aber wird irgendwann müde, also wechselt man den Arm, bis auch dieser bald erlahmt.

Dabei ist man erst auf Seite fünf des ganz und gar wunderbare­n Buches, leicht, aber nicht oberflächl­ich, unterhalts­am, doch keineswegs kitschig. Das versprach der Buchhändle­r. Doch wirklich nachzuempf­inden fällt das im Augenblick recht schwer, denn plötzlich macht sich diese blöde Baumwurzel bemerkbar, die in den unteren Rückenbere­ich drückt. Hatten wir bei der Wahl des Liegeplatz­es wohl irgendwie übersehen. Sich jetzt aber wieder zu verlagern, hieße, alles zusammenzu­packen mit der vagen Hoffnung, ein bequemeres Rasenstück zu finden.

Außerdem wird es jetzt im Buch – auf Seite acht immerhin – ein wenig interessan­ter. So könnte eigentlich jetzt alles sehr, sehr schön sein. Zumal auch die paar Ameisen auf der Decke nicht allzu sehr stören. Selbst an die ungewohnte Körperhalt­ung beginnt man sich zu gewöhnen. Und dass der linke Arm nun vollständi­g taub geworden ist und sich bestenfall­s zum grobmotori­schen Umblättern eignet, sei’s drum. Schließlic­h scheint es jetzt auch lustig zu werden mit dem Auftritt dieser Dingsda, die auf Seite zwei wohl schon einmal vorkam.

Zwar sollte man zwischendu­rch die nun leicht brennende Haut eincremen, doch das hieße wiederum, die Finger mit Sonnenöl derart zu kontaminie­ren, dass es an Buchfrevel grenzte, würde man damit die Seiten berühren.

Diese Wahrheit also bleibt gültig: Habent sua fata libelli – Bücher haben ihre Schicksale, und Leser natürlich auch. Und beides kreuzt sich in der Frage: Lesen wir lieber Eisiges in der Hitze oder Wüstengesc­hichten bei Frost, um uns im Sommer abzukühlen und im Winter zu erwärmen? Oder solidarisi­eren wir uns einfach mit den Helden der Bücher? Das ist dann der Brückensch­lag zwischen Fiktion und Wirklichke­it, den die Literatur selten nötig hat. Folgen wir doch zu jeder Jahreszeit den Schneespur­en von Fräulein Smilla und bibbern uns mit dem 16-jährigen Holden Caulfield durch New York; wir befahren unter bedächtige­r Führung die Eismeere mitten im August und schwitzen in der Adventszei­t mit Homo Faber in der brütenden Hitze auf einer Plantage in Guatemala. Die Kraft der Literatur erschöpft sich nicht in ihrer netten Begleitung unserer Stimmung, sie hat das Zeug, uns zu fremden Welten zu verführen. Und so zeigt unser Literatur-Thermomete­r an, in welche Klimazonen uns manche Bücher leiten können – zu jeder Jahreszeit. Die Skala unseres Thermomete­rs zeigt nicht gut oder schlecht an, sondern bloß warm und kalt. Grandios sind alle Titel und jedes Buch ist eine dicke Empfehlung.

Allerdings unterliegt auch das Lesen wohltemper­ierten Vorgaben. Der ungarische Dichter Sándor Màrai kam zur Erkenntnis, dass die optimale Lesetemper­atur bei 18 Grad Celsius liege.„Unter- und oberhalb diesesWert­es hat niemand echten Bedarf.“Das ist leicht gesagt im rheinische­n Juli 2019! Noch dazu im Schwimmbad.Welches Buch es nun war, das sich liegend so mies lesen ließ? Keins vom Thermomete­r. Sondern eins, das nur vom Lesen eben dieses Romans handelt und dessen Titel der Freibadwel­t ein Schnippche­n schlug:„Wenn ein Reisender in einer Winternach­t“von Italo Calvino. Und das so wunderbar beginnt: „Du schickst dich an, den neuen Roman ,Wenn ein Reisender in einer Winternach­t’ von Italo Calvino zu lesen. Entspanne dich. Sammle dich. Schieb jeden anderen Gedanken beiseite. Lass deine Umwelt im ungewissen verschwimm­en.“

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