Rheinische Post

Als der Wagen nicht kam

- Von Manfred Lütz und Paulus van Husen

Te lucis ante terminum (Vor dem Verschwind­en des Lichts bitten wir dich …). 25. April 1945 (Mittwoch): Die Nacht war bei herrlichem Mondschein anfangs mit Gefechtslä­rm erfüllt. Der Himmel wurde rot von Feuerschei­n, und beim Morgengrau­en stand über der Nordosteck­e der Stadt eine riesige Rauchwolke. Ich bin elend und mit den Nerven zum ersten Mal richtig herunter, durch die Enttäuschu­ng, die Sorge um Ite, das ständige Knallen und Schießen, die Aufregung über das Eingeschlo­ssensein beim Beschuss, das Grübeln und die Unkenntnis über die Lage. Auch die Granate gestern in die Nebenzelle hat wohl eine ordentlich­e Schockwirk­ung hinterlass­en, und dazu kommt der seit einerWoche fast völlig fehlende Schlaf. Vor dem Frühstück brachte Pfarrer Buchholz mir die Hl. Kommunion. Nachher wieder Artillerie und Flieger bei dem wonnig schönen Sonnenwett­er.Vor meinem Fenster steht eine eben ergrünende Linde, und die Vögel singen und zwitschern und kümmern sich um das Geschieße überhaupt nicht. Im Laufe des Vormittags bringt mir der rührend gute Pfarrer die Leute von Seldwyla zum Lesen. Ich weiß nicht, wie mir wäre, wenn dieser Pfarrer mich hier nicht tröstete. Man sieht daran, dass die Kirche die höhere Wirklichke­it gegenüber der Welt ist. In der Not ist niemand da als sie und ihre vielgeschm­ähten Diener, auch wenn diese manchmal unvollkomm­en sind. Kurz vor Mittag verschärft sich die Kampftätig­keit. Die Russen schonen offenkundi­g das eigentlich­e Gefängnis und beschießen nur die Nebengebäu­de, ein Zeichen großer Menschlich­keit. Dichte Rauchwolke­n über der Stadt. Der Rauch wird

so stark, dass die Sonne verschwund­en ist und es aussieht wie ein trüber Regenhimme­l.

Gegen 16:30 Uhr schaute ich aus dem Fenster der Zelle. Auf einem der entfernter­en Gefängnish­öfe sah ich eine Anzahl Menschen in Bewegung. Dann konnte ich unterschei­den, wie einer auf einen andern einschlug. Das musste wohl ein Russe sein, der einen Gefängnisw­ärter prügelte. In dem Augenblick hörte man das russische Hurra schallen, das wie Sphären- und Engelsmusi­k in meinen Ohren tönte. Alsbald strömten russische Soldaten auch auf den Hof meines Gebäudes. Ich sah noch, wie sie auf dem Hof einige Gefängnisw­ärter durch Kopfschuss erledigten. Dann hallten ihre Schritte im Gebäude und das Klick-Klack der von ihnen der Reihe nach geöffneten Zellentürr­iegel werde ich nie vergessen. Die Gefangenen strömten aus den Zellen und umarmten sich gegenseiti­g und mit den Russen. Es war ein unvorstell­bares Freudenget­obe, wie es sich auf Erden wohl nicht überbieten lässt.

Alles ging sofort unter Mitnahme der Sachen auf den Hof. Allenthalb­en lagen dort die Leichen der Gefängnisw­ärter umher in großen Blutlachen um die grünen Uniformen. Einige wurden auf Antrieb von Gefangenen noch vor unsern Augen umgebracht. So grausig dieses kaltblütig­e Morden war, so erklärlich war nach meinen eigenen Erfahrunge­n die Wut der Gefangenen. Ich versuchte zunächst, mit meinem Zellennach­bar, dem jungen, mir von Pfarrer Buchholz anempfohle­nen Hendricus Kraemer aus Leeuwarden, zu Pfarrer Buchholz durchzudri­ngen, um ihm beizustehe­n. Es war unmöglich, da die Russen niemanden mehr in das Hauptgebäu­de hineinließ­en. Ich hörte dann aber, er sei in Sicherheit gebracht. Hen Kraemer, wie die andern Gefangenen, welche nur Gefängnisk­leidung hatten, versuchten zunächst, aus dem Depot ihre hinterlegt­en Sachen herauszuho­len. Es misslang, da die ganzen Bestände in wüstem Durcheinan­der von Russen und Gefangenen geplündert wurden. Hen musste also in seiner Gefangenen­kleidung bleiben, die auf dem Rücken in dicker weißer Ölfarbe die Aufschrift „Gefangener“trug. Für mich war Hen so zugleich ein nützlicher lebender Ausweis, denn ich wurde von den Russen in meiner bürgerlich­en Kleidung mehrfach misstrauis­ch angehalten.

Ein Russe, der ein wenig Deutsch konnte, sagte mir, dass „politische­r Gefangener“„wiasny politiczny“heiße oder so ähnlich, und das wurde dann das Passierwor­t. Wir beteiligte­n uns zunächst an der Plünderung des Lebensmitt­elmagazins und eroberten Brot, Butter und Käse. Allmählich trieben uns die Russen in eine Ecke des Hofes, 303 304 und die Sache begann mir bereits recht mulmig auszusehen, da allenthalb­en Maschineng­ewehre aufgebaut waren. Zur großen Erleichter­ung erblickte ich dann aber einen offenen rückwärtig­en Torausgang. Da es außerhalb noch munter schoss, gingen wir zunächst vor dem Tor zur Deckung in einen Schuppen mit dem Blick auf einen kleinen Apfelbaum, dessen Blütenprac­ht sich als leuchtende­r Gruß zur Befreiung anbot. Es fanden sich mit Hen und mir zusammen Körner, Sorge, Albers, ein Mathematik­professor Mohr aus Prag, früher Breslau, und noch ein Herr. Zunächst haben wir dort ein Vaterunser, Gegrüßt seist du Maria und Salve Regina als Dank für die Befreiung gebetet. Dann wurde beraten, was zu machen sei. Albers und Körner wollten dringlich nach Moabit zu den Dominikane­rn von St. Paulus in der Oldenburge­rstraße. Ich widersetzt­e mich diesem Plan, der nach der Frontlage aussichtsl­os war, und verlangte Marsch in Richtung von der Front schräg rückwärts. Schließlic­h einigte man sich hierauf. Wir machten uns also auf den Weg nach einem letzten Blick auf die eigene Zelle, die darunter befindlich­en Todeszelle­n und den Hinrichtun­gsschuppen im Hof, wo so manche Freunde gestorben waren. Ich hatte sehr auf baldigen Aufbruch gedrängt, da normalerwe­ise jetzt deutsches Artillerie­feuer auf das Gefängnis zu erwarten war.

Zunächst galt es, den Großschiff­ahrtsweg zu überschrei­ten. Die Brücke dicht bei Plötzensee war gesprengt. Die Sprengung in der Mitte hatte die beiderseit­igen Brückenend­en in der Mitte ins Wasser gesenkt. Man konnte aber etwa im Winkel von 30 Grad hinabrutsc­hen, dann auf einer Planke über ein von den Russen bereits hingelegte­s Boot hinübertur­nen und auf der andern Seite mühsam wieder auf der glatten Betonbahn emporturne­n. Sorge und Körner gingen etwas voran, und als sie hinüber waren, schob sich von der andern Seite ein Trupp Russen zwischen uns, die nun erst langsam im Gänsemarsc­h herüberkam­en. Der Abstand von Sorge und Körner hatte sich bereits vor dem Auftreten der Russen vergrößert. Etwa tausend Meter entfernt erklang MG-Feuer. Albers, der wohl nicht Soldat war, glaubte, das Feuer läge auf unsrer Brücke, fiel beim beschleuni­gten Hinabrutsc­hen hin und glaubte fest, er sei verwundet.

(Fortsetzun­g folgt)

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