Als der Wagen nicht kam
Te lucis ante terminum (Vor dem Verschwinden des Lichts bitten wir dich …). 25. April 1945 (Mittwoch): Die Nacht war bei herrlichem Mondschein anfangs mit Gefechtslärm erfüllt. Der Himmel wurde rot von Feuerschein, und beim Morgengrauen stand über der Nordostecke der Stadt eine riesige Rauchwolke. Ich bin elend und mit den Nerven zum ersten Mal richtig herunter, durch die Enttäuschung, die Sorge um Ite, das ständige Knallen und Schießen, die Aufregung über das Eingeschlossensein beim Beschuss, das Grübeln und die Unkenntnis über die Lage. Auch die Granate gestern in die Nebenzelle hat wohl eine ordentliche Schockwirkung hinterlassen, und dazu kommt der seit einerWoche fast völlig fehlende Schlaf. Vor dem Frühstück brachte Pfarrer Buchholz mir die Hl. Kommunion. Nachher wieder Artillerie und Flieger bei dem wonnig schönen Sonnenwetter.Vor meinem Fenster steht eine eben ergrünende Linde, und die Vögel singen und zwitschern und kümmern sich um das Geschieße überhaupt nicht. Im Laufe des Vormittags bringt mir der rührend gute Pfarrer die Leute von Seldwyla zum Lesen. Ich weiß nicht, wie mir wäre, wenn dieser Pfarrer mich hier nicht tröstete. Man sieht daran, dass die Kirche die höhere Wirklichkeit gegenüber der Welt ist. In der Not ist niemand da als sie und ihre vielgeschmähten Diener, auch wenn diese manchmal unvollkommen sind. Kurz vor Mittag verschärft sich die Kampftätigkeit. Die Russen schonen offenkundig das eigentliche Gefängnis und beschießen nur die Nebengebäude, ein Zeichen großer Menschlichkeit. Dichte Rauchwolken über der Stadt. Der Rauch wird
so stark, dass die Sonne verschwunden ist und es aussieht wie ein trüber Regenhimmel.
Gegen 16:30 Uhr schaute ich aus dem Fenster der Zelle. Auf einem der entfernteren Gefängnishöfe sah ich eine Anzahl Menschen in Bewegung. Dann konnte ich unterscheiden, wie einer auf einen andern einschlug. Das musste wohl ein Russe sein, der einen Gefängniswärter prügelte. In dem Augenblick hörte man das russische Hurra schallen, das wie Sphären- und Engelsmusik in meinen Ohren tönte. Alsbald strömten russische Soldaten auch auf den Hof meines Gebäudes. Ich sah noch, wie sie auf dem Hof einige Gefängniswärter durch Kopfschuss erledigten. Dann hallten ihre Schritte im Gebäude und das Klick-Klack der von ihnen der Reihe nach geöffneten Zellentürriegel werde ich nie vergessen. Die Gefangenen strömten aus den Zellen und umarmten sich gegenseitig und mit den Russen. Es war ein unvorstellbares Freudengetobe, wie es sich auf Erden wohl nicht überbieten lässt.
Alles ging sofort unter Mitnahme der Sachen auf den Hof. Allenthalben lagen dort die Leichen der Gefängniswärter umher in großen Blutlachen um die grünen Uniformen. Einige wurden auf Antrieb von Gefangenen noch vor unsern Augen umgebracht. So grausig dieses kaltblütige Morden war, so erklärlich war nach meinen eigenen Erfahrungen die Wut der Gefangenen. Ich versuchte zunächst, mit meinem Zellennachbar, dem jungen, mir von Pfarrer Buchholz anempfohlenen Hendricus Kraemer aus Leeuwarden, zu Pfarrer Buchholz durchzudringen, um ihm beizustehen. Es war unmöglich, da die Russen niemanden mehr in das Hauptgebäude hineinließen. Ich hörte dann aber, er sei in Sicherheit gebracht. Hen Kraemer, wie die andern Gefangenen, welche nur Gefängniskleidung hatten, versuchten zunächst, aus dem Depot ihre hinterlegten Sachen herauszuholen. Es misslang, da die ganzen Bestände in wüstem Durcheinander von Russen und Gefangenen geplündert wurden. Hen musste also in seiner Gefangenenkleidung bleiben, die auf dem Rücken in dicker weißer Ölfarbe die Aufschrift „Gefangener“trug. Für mich war Hen so zugleich ein nützlicher lebender Ausweis, denn ich wurde von den Russen in meiner bürgerlichen Kleidung mehrfach misstrauisch angehalten.
Ein Russe, der ein wenig Deutsch konnte, sagte mir, dass „politischer Gefangener“„wiasny politiczny“heiße oder so ähnlich, und das wurde dann das Passierwort. Wir beteiligten uns zunächst an der Plünderung des Lebensmittelmagazins und eroberten Brot, Butter und Käse. Allmählich trieben uns die Russen in eine Ecke des Hofes, 303 304 und die Sache begann mir bereits recht mulmig auszusehen, da allenthalben Maschinengewehre aufgebaut waren. Zur großen Erleichterung erblickte ich dann aber einen offenen rückwärtigen Torausgang. Da es außerhalb noch munter schoss, gingen wir zunächst vor dem Tor zur Deckung in einen Schuppen mit dem Blick auf einen kleinen Apfelbaum, dessen Blütenpracht sich als leuchtender Gruß zur Befreiung anbot. Es fanden sich mit Hen und mir zusammen Körner, Sorge, Albers, ein Mathematikprofessor Mohr aus Prag, früher Breslau, und noch ein Herr. Zunächst haben wir dort ein Vaterunser, Gegrüßt seist du Maria und Salve Regina als Dank für die Befreiung gebetet. Dann wurde beraten, was zu machen sei. Albers und Körner wollten dringlich nach Moabit zu den Dominikanern von St. Paulus in der Oldenburgerstraße. Ich widersetzte mich diesem Plan, der nach der Frontlage aussichtslos war, und verlangte Marsch in Richtung von der Front schräg rückwärts. Schließlich einigte man sich hierauf. Wir machten uns also auf den Weg nach einem letzten Blick auf die eigene Zelle, die darunter befindlichen Todeszellen und den Hinrichtungsschuppen im Hof, wo so manche Freunde gestorben waren. Ich hatte sehr auf baldigen Aufbruch gedrängt, da normalerweise jetzt deutsches Artilleriefeuer auf das Gefängnis zu erwarten war.
Zunächst galt es, den Großschiffahrtsweg zu überschreiten. Die Brücke dicht bei Plötzensee war gesprengt. Die Sprengung in der Mitte hatte die beiderseitigen Brückenenden in der Mitte ins Wasser gesenkt. Man konnte aber etwa im Winkel von 30 Grad hinabrutschen, dann auf einer Planke über ein von den Russen bereits hingelegtes Boot hinüberturnen und auf der andern Seite mühsam wieder auf der glatten Betonbahn emporturnen. Sorge und Körner gingen etwas voran, und als sie hinüber waren, schob sich von der andern Seite ein Trupp Russen zwischen uns, die nun erst langsam im Gänsemarsch herüberkamen. Der Abstand von Sorge und Körner hatte sich bereits vor dem Auftreten der Russen vergrößert. Etwa tausend Meter entfernt erklang MG-Feuer. Albers, der wohl nicht Soldat war, glaubte, das Feuer läge auf unsrer Brücke, fiel beim beschleunigten Hinabrutschen hin und glaubte fest, er sei verwundet.
(Fortsetzung folgt)