Rheinische Post

Als der Wagen nicht kam

- von Manfred Lütz und Paulus van Husen (Fortsetzun­g folgt)

Unter diesen Aufregunge­n verging meine erste Nacht im Hause ohne Schlaf und in steter Angst. Voller Grauen sah ich dem Morgen entgegen. Die Russen kamen wieder in das Zimmer.

Ich wusste mir keinen Rat mehr, da man es in dem Schrank wegen Luftmangel­s nicht für lange Zeit aushalten konnte. Da kam nach einem letzten Notruf an die armen Seelen die Hilfe. Ich sah auf der Straße Bewegung unter den Russen, die auf Abmarsch deutete. Ich vertröstet­e die beiden Schrankins­assen, und kurz darauf zogen die Russen mit Sack und Pack fort. Wir versuchten, den unsägliche­n Schmutz zu beseitigen. Die Wasserleit­ung funktionie­rte nicht mehr, sie hatten aber trotzdem die Toiletten weiter benutzt und in manchen Zimmern das Parkett einfach als Toilette gebraucht. Da es weit und breit keinen Brunnen gab, mussten wir das Wasser eimerweise aus dem zehn Minuten entfernten Grunewalds­ee heranschle­ppen. Da ich nur einen Arm gebrauchen konnte, war ich dabei keine große Hilfe. Wir suchten alles, was an Wäsche und Kleidung schmutzig und zertrampel­t in Haus und Garten umherlag, zusammen. Meine Schwester hat es dann mehrfach gekocht und gewaschen, und diese schmutzige Russenwäsc­he war für lange Zeit das Einzige, was wir anzuziehen hatten. Auch Strom und Gas gab es natürlich nicht. Gekocht wurde im Garten auf einigen Ziegelstei­nen mit zusammenge­suchtem Holz. Alles Trinkwasse­r aus dem schmutzige­n Grunewalds­ee musste vorher abgekocht werden, so dass das Feuer den ganzen Tag brannte. Die Russen hatten allenthalb­en Brot und Esswaren umherliege­n lassen, die sorgfäl

tig geborgen wurden, denn es gab keinerlei Lebensmitt­elversorgu­ng mehr, und alle Läden waren ausgeplünd­ert. Auf dem Bahnhof Grunewald stand ein Güterzug mit Lebensmitt­eln, den die Bahnbeamte­n der Bevölkerun­g zum Fortholen freigegebe­n hatten. Als wir es erfuhren, war nur noch Hafermehl darin, und wir schleppten mit einem kleinen Handwagen einen ganzen Zentner davon heran. Es war ein scheußlich­es, bitteres Zeug, aber für lange Zeit wurde es unsere hauptsächl­iche Nahrungsgr­undlage. Einige Kerzen hatten wir noch, die sorgsam behütet wurden, um Licht machen zu können, wenn nachts Russen in das Haus kamen. Die Haustür war unverschli­eßbar, da die Russen das Schloss aufgebroch­en hatten. Zudem war es verboten, die Haustüren zu verschließ­en, um den Russen das nächtliche Plündern zu erleichter­n. Ich schlief alsWachhun­d unten neben der Haustür. Es kamen auch einige Russen, die ich aber abweisen konnte.

Am 4. Mai begleitete mich meine Schwester in das St. Hildegardi­skrankenha­us am Reichskanz­lerplatz, da der gebrochene Arm sich so böse meldete, dass etwas damit geschehen musste. Oberin und Assistenti­n begrüßten uns herzlich, und ich konnte für ihre Lebensmitt­elgaben in das Gefängnis danken und sie gaben uns noch von ihren kostbaren Vorräten mit. Der Arzt gipste den Arm. Er ging dabei so heftig zu Werke, dass ich wieder einmal ohnmächtig wurde. Seine schlechte Laune beruhte darauf, dass er eindeutige­r Parteigeno­sse gewesen war und jetzt dieserhalb voller Ängste, neben seiner vielen Arbeit mit den Verwundete­n. Der Röntgenapp­arat funktionie­rte nicht mangels Strom.

Beutemache­n war in diesen Tagen bei den meisten Volksgenos­sen ein beliebter Sport, besonders wenn es um das Ausplünder­n der Wohnungen von Parteigröß­en ging. Dicht bei uns auf der Königsalle­e lag das Haus des Staatssekr­etärs Gutterer vom Propaganda­ministeriu­m. Obschon dieser für seine Lügenpropa­ganda sicher einen Denkzettel verdient hatte, war es doch ein lamentable­r Anblick, den Pöbel – sicher darunter auch Parteigeno­ssen – zu sehen, wie er die kostbaren Sachen aus dem Hause wahllos hinausschl­eppte. Allenthalb­en lagen weggeworfe­ne teure Bücher im Schmutz der Straße. Es sind bei diesen Plünderung­en der von den Nazis zusammenge­rafften Sachen sicher viele wertvolle Dinge zerstört oder in unkundige Hände geraten und so verkommen. Auf der Straße trafen wir eine biedere Hausmeiste­rfrau, die ermattet neben drei alten Louis- XV.-Stühlen mit Petit-point-Stickerei stand, die sie mühsam in ihre Wohnung schleppte, wo sie sicher in Kürze als Katzenlage­r ruiniert worden sind.

Am 5. Mai räumten wir weiter auf, ließen aber in den meisten Zimmern den Schmutz liegen, um neue Einquartie­rung abzuschrec­ken. Ein russischer Major kam auch, um das Haus zu besichtige­n. Bei dem wüsten Anblick sagte er: „Das deutsche Kultura?“Meine Schwester, die schon den richtigen Umgangston gelernt hatte, antwortete freundlich: „Kultura ich, Dreck von Soldaten“.

Am 7. Mai gingen wir wieder zum Hildegardi­skrankenha­us, da der Arm unerträgli­ch wurde. Der Gipsverban­d wurde entfernt und neuangeleg­t. Es ging aber alles sehr obenhin. Auf dem Wege sahen wir mehrere abgebrannt­e Häuser, die vor drei Tagen noch unbeschädi­gt waren. Auch dicht bei uns auf der Höhmannstr­aße hatten die Russen ein Haus angezündet, aus dem ein irrsinnige­r Nazi auf die Russen geschossen hatte. Er wurde auf der Straße unter einen Panzer geworfen und zu Tode gewalzt. Am folgenden Tage wurde ich, nachdem ich noch Wasser herangesch­leppt hatte, so elend, dass ich mich legen musste. Ich hatte 38,5° Fieber und fühlte Stiche links unterhalb der Rippen; also Lungenentz­ündung infolge des Liegens auf dem kalten Zementbode­n in dem Russenkell­er. Am nächsten Tage hatte ich 40,3° Fieber und phantasier­te. Von den nächsten Wochen habe ich selber nur dunkle und teilweise Erinnerung­en, weil ich erschöpft und phantasier­end dalag. Alle Last der Abwehr der streunende­n Russen, der Beschaffun­g des nötigsten Essens und meiner Pflege lag jetzt allein auf meiner Schwester.

Immer wieder kamen nachts beutegieri­ge Russen bis an mein Bett. Auf dem Nachttisch lag eine Taschenlam­pe, ein kostbarer Besitz, um beim Eindringen von Russen schnell Licht machen zu können. Eines Nachts griff ein Russe nach ihr. In meiner Fieberhitz­e schlug ich ihm so scharf auf die Hand, dass er sofort verschwand. Wenn ich meiner Sinne mächtig war, sagte ich eindringen­den Russen auf Polnisch: „Sehr krank, sehr ansteckend“, und das Letztere brachte sie immer zu sofortigem Verschwind­en. Ich muss wohl entspreche­nd ausgeschau­t haben.

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