Als der Wagen nicht kam
Unter diesen Aufregungen verging meine erste Nacht im Hause ohne Schlaf und in steter Angst. Voller Grauen sah ich dem Morgen entgegen. Die Russen kamen wieder in das Zimmer.
Ich wusste mir keinen Rat mehr, da man es in dem Schrank wegen Luftmangels nicht für lange Zeit aushalten konnte. Da kam nach einem letzten Notruf an die armen Seelen die Hilfe. Ich sah auf der Straße Bewegung unter den Russen, die auf Abmarsch deutete. Ich vertröstete die beiden Schrankinsassen, und kurz darauf zogen die Russen mit Sack und Pack fort. Wir versuchten, den unsäglichen Schmutz zu beseitigen. Die Wasserleitung funktionierte nicht mehr, sie hatten aber trotzdem die Toiletten weiter benutzt und in manchen Zimmern das Parkett einfach als Toilette gebraucht. Da es weit und breit keinen Brunnen gab, mussten wir das Wasser eimerweise aus dem zehn Minuten entfernten Grunewaldsee heranschleppen. Da ich nur einen Arm gebrauchen konnte, war ich dabei keine große Hilfe. Wir suchten alles, was an Wäsche und Kleidung schmutzig und zertrampelt in Haus und Garten umherlag, zusammen. Meine Schwester hat es dann mehrfach gekocht und gewaschen, und diese schmutzige Russenwäsche war für lange Zeit das Einzige, was wir anzuziehen hatten. Auch Strom und Gas gab es natürlich nicht. Gekocht wurde im Garten auf einigen Ziegelsteinen mit zusammengesuchtem Holz. Alles Trinkwasser aus dem schmutzigen Grunewaldsee musste vorher abgekocht werden, so dass das Feuer den ganzen Tag brannte. Die Russen hatten allenthalben Brot und Esswaren umherliegen lassen, die sorgfäl
tig geborgen wurden, denn es gab keinerlei Lebensmittelversorgung mehr, und alle Läden waren ausgeplündert. Auf dem Bahnhof Grunewald stand ein Güterzug mit Lebensmitteln, den die Bahnbeamten der Bevölkerung zum Fortholen freigegeben hatten. Als wir es erfuhren, war nur noch Hafermehl darin, und wir schleppten mit einem kleinen Handwagen einen ganzen Zentner davon heran. Es war ein scheußliches, bitteres Zeug, aber für lange Zeit wurde es unsere hauptsächliche Nahrungsgrundlage. Einige Kerzen hatten wir noch, die sorgsam behütet wurden, um Licht machen zu können, wenn nachts Russen in das Haus kamen. Die Haustür war unverschließbar, da die Russen das Schloss aufgebrochen hatten. Zudem war es verboten, die Haustüren zu verschließen, um den Russen das nächtliche Plündern zu erleichtern. Ich schlief alsWachhund unten neben der Haustür. Es kamen auch einige Russen, die ich aber abweisen konnte.
Am 4. Mai begleitete mich meine Schwester in das St. Hildegardiskrankenhaus am Reichskanzlerplatz, da der gebrochene Arm sich so böse meldete, dass etwas damit geschehen musste. Oberin und Assistentin begrüßten uns herzlich, und ich konnte für ihre Lebensmittelgaben in das Gefängnis danken und sie gaben uns noch von ihren kostbaren Vorräten mit. Der Arzt gipste den Arm. Er ging dabei so heftig zu Werke, dass ich wieder einmal ohnmächtig wurde. Seine schlechte Laune beruhte darauf, dass er eindeutiger Parteigenosse gewesen war und jetzt dieserhalb voller Ängste, neben seiner vielen Arbeit mit den Verwundeten. Der Röntgenapparat funktionierte nicht mangels Strom.
Beutemachen war in diesen Tagen bei den meisten Volksgenossen ein beliebter Sport, besonders wenn es um das Ausplündern der Wohnungen von Parteigrößen ging. Dicht bei uns auf der Königsallee lag das Haus des Staatssekretärs Gutterer vom Propagandaministerium. Obschon dieser für seine Lügenpropaganda sicher einen Denkzettel verdient hatte, war es doch ein lamentabler Anblick, den Pöbel – sicher darunter auch Parteigenossen – zu sehen, wie er die kostbaren Sachen aus dem Hause wahllos hinausschleppte. Allenthalben lagen weggeworfene teure Bücher im Schmutz der Straße. Es sind bei diesen Plünderungen der von den Nazis zusammengerafften Sachen sicher viele wertvolle Dinge zerstört oder in unkundige Hände geraten und so verkommen. Auf der Straße trafen wir eine biedere Hausmeisterfrau, die ermattet neben drei alten Louis- XV.-Stühlen mit Petit-point-Stickerei stand, die sie mühsam in ihre Wohnung schleppte, wo sie sicher in Kürze als Katzenlager ruiniert worden sind.
Am 5. Mai räumten wir weiter auf, ließen aber in den meisten Zimmern den Schmutz liegen, um neue Einquartierung abzuschrecken. Ein russischer Major kam auch, um das Haus zu besichtigen. Bei dem wüsten Anblick sagte er: „Das deutsche Kultura?“Meine Schwester, die schon den richtigen Umgangston gelernt hatte, antwortete freundlich: „Kultura ich, Dreck von Soldaten“.
Am 7. Mai gingen wir wieder zum Hildegardiskrankenhaus, da der Arm unerträglich wurde. Der Gipsverband wurde entfernt und neuangelegt. Es ging aber alles sehr obenhin. Auf dem Wege sahen wir mehrere abgebrannte Häuser, die vor drei Tagen noch unbeschädigt waren. Auch dicht bei uns auf der Höhmannstraße hatten die Russen ein Haus angezündet, aus dem ein irrsinniger Nazi auf die Russen geschossen hatte. Er wurde auf der Straße unter einen Panzer geworfen und zu Tode gewalzt. Am folgenden Tage wurde ich, nachdem ich noch Wasser herangeschleppt hatte, so elend, dass ich mich legen musste. Ich hatte 38,5° Fieber und fühlte Stiche links unterhalb der Rippen; also Lungenentzündung infolge des Liegens auf dem kalten Zementboden in dem Russenkeller. Am nächsten Tage hatte ich 40,3° Fieber und phantasierte. Von den nächsten Wochen habe ich selber nur dunkle und teilweise Erinnerungen, weil ich erschöpft und phantasierend dalag. Alle Last der Abwehr der streunenden Russen, der Beschaffung des nötigsten Essens und meiner Pflege lag jetzt allein auf meiner Schwester.
Immer wieder kamen nachts beutegierige Russen bis an mein Bett. Auf dem Nachttisch lag eine Taschenlampe, ein kostbarer Besitz, um beim Eindringen von Russen schnell Licht machen zu können. Eines Nachts griff ein Russe nach ihr. In meiner Fieberhitze schlug ich ihm so scharf auf die Hand, dass er sofort verschwand. Wenn ich meiner Sinne mächtig war, sagte ich eindringenden Russen auf Polnisch: „Sehr krank, sehr ansteckend“, und das Letztere brachte sie immer zu sofortigem Verschwinden. Ich muss wohl entsprechend ausgeschaut haben.