Rheinische Post

Wir heiraten, aber nur auf dem Papier

„Es gilt das gesprochen­e Wort“ist ein Liebesdram­a um eine deutsche Pilotin, die einen jungen Türken zum Schein heiratet.

- VON MARTIN SCHWICKERT

Aus dem tiefen Anatolien reist Baran (Ogulcan Arman Uslu) nach Abschluss seines Militärdie­nstes per Anhalter nach Marmaris. Die Stadt an der türkischen Ägäis ist ein Urlaubspar­adies, in dem sich viele Touristen tummeln. Baran träumt davon, seinen ärmlichen Verhältnis­sen zu entfliehen und in Europa ein neues Leben anzufangen. „Ich mache alles“, sagt er zu dem Wirt, der ihn misstrauis­ch mustert und den Bewerber vortanzen lässt. Der Neue landet als Spüler in der Küche und verdient sich schon bald, wie der Rest der Belegschaf­t, sein Zubrot mit sexuellen Dienstleis­tungen für westliche Touristinn­en. Auf der Suche nach einem bezahlten Urlaubsfli­rt landen die Frauen in der einschlägi­g bekannten Bar, und Baran hofft, dass eine von ihnen ihm den Weg nach Europa ebnet.

Als er die deutsche Pilotin Marion (Anne Ratte-Polle) am Strand anflirtet, zeigt diese sich wenig interessie­rt an den Avancen des Gigolos. Marion hat andere Sorgen. Sie nimmt sich mit dem anderweiti­g verheirate­ten Raphael (Godehard Giese) nach ihrer Krebsdiagn­ose eine kurze Auszeit am Meer, um ihr Leben neu zu überdenken. Der gemeinsame Urlaub ist das Ende der langjährig­en Affäre.

Mit den plötzliche­n Hilfsangeb­oten des Gelegenhei­tsliebhabe­rs kann Marion nicht umgehen und schickt ihn nach Hause. Als sie vor ihrer Abreise erneut Baran trifft und der sie bittet, ihn nach Deutschlan­d zu holen, lässt sich Marion aus einem Impuls heraus auf die Scheinehe ein. Vielleicht weil sie im Angesicht der lebensbedr­ohlichen Krankheit etwas tun will, das in die Zukunft gerichtet ist. Vielleicht weil der junge Türke ihr imponiert mit seinem Willen, das eigene Leben neu in die Hand zu nehmen. Vielleicht weil sich die unvernüfti­ge Entscheidu­ng einfach richtig anfühlt.

Die Gründe für die überrasche­nde Entscheidu­ng bleiben in Ilker Çataks „Es gilt nur das gesprochen­e Wort“ein Geheimnis der Figur. Und das passt zu dieser selbstbewu­ssten Frau, die sich nicht gern in die Karten schauen lässt und von der fabelhafte­n Anne Ratte-Pelle mit einer geradezu strahlende­n, persönlich­en Integrität verkörpert wird. Die Pilotin ist es gewohnt zu lenken und weiß genau, was sie will. Durch ihre Krankheit gerät sie allerdings in den Zustand einer produktive­n Verunsiche­rung, aus dem heraus sie sich mehr als ursprüngli­ch geplant auf ihren Scheinehem­ann einlässt.

Mit großer Sensibilit­ät und ohne melodramat­ische Posen lotet Çatak die Liebes- und Machtverhä­ltnisse in der ungleichen Beziehung aus. Dabei unterminie­rt er immer wieder die von Stereotype­n geprägten Erwartunge­n. Das Klischee der Karrierefr­au wird hier ebenso dekonstrui­ert wie das des hilfsbedür­ftigen Migranten. Marion geht mit klaren Regeln undVorgabe­n an die Scheinehe heran und hat sich genau in die juristisch­e Materie eingearbei­tet.

Aber sie kann die emotionale­n Grenzen, die sie gegen Baran errichtet hat, schon bald nicht mehr aufrecht erhalten. Der junge Türke begegnet der emanzipier­ten Frau und ihrer Lebenswelt mit Neugier, Verwunderu­ng, Irritation und zunehmende­m Selbstbewu­sstsein. Die beiden ringen darum, sich auf Augenhöhe zu begegnen. Dabei schaut man gerne und interessie­rt zu, weil der Film – anders als sein Titel suggeriert – davon weniger in ausgefeilt­en Dialogen als über Emotionen erzählt, die sich in Blicken, Körperhalt­ungen oder der Klangfarbe des Gesagten entfalten.

Çatak vertraut der Sensibilit­ät des Publikums, dem nicht alles fertig ausformuli­ert vor die Nase gesetzt werden muss – eine Gabe, die im deutschen Kino nicht allzu weit verbreitet ist. Dazu passt das stimmungsv­olle, in kühlen Farben gehaltene Setting Hamburgs, in dem es dem Neuankömml­ing nicht leicht fällt, sich einzuricht­en, obwohl er sein neues Leben in Deutschlan­d mit ambitionie­rtem Elan angeht. Wie viele Knüppel einem vollkommen integratio­nswilligen Migranten in diesem Land in den Weg gelegt werden, aber auch wie viel Hilfe er von seinen Mitmensche­n erfährt – all das zeigt der Film.

Mag sein, dass die ein oder andere Plotwendun­g in „Es gilt das gesprochen­e Wort“ein wenig überdosier­t erscheint und der Film in der letzten halben Stunde zu sehr in die eigenen Verwicklun­gen verstrickt ist. Aber trotz alledem bleibt Çatak sei

nem differenzi­erten Konzept bis zum Abspann treu. Sein Film verweigert sich den romantisch­en Happy-End-Ansprüchen und findet eine überrasche­nde, offene Schlusswen­dung, die dem Selbstbewu­sstsein und der Widersprüc­hlichkeit seiner Figuren vollkommen gerecht wird.

„Es gilt das gesprochen­e Wort“D/F 2019, 120 Min., von Ilker Çatak, mit Anne Ratte-Polle, Ogulcan Arman Uslu, Godehard Giese

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FOTO: DPA Anne Ratte-Polle als Marion und Arman Uslu als Baran in einer Szene des Films „Es gilt das gesprochen­e Wort“.

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