Rheinische Post

Als der Wagen nicht kam

- (Fortsetzun­g folgt) von Manfred Lütz und Paulus van Husen © 2019 HERDER VERLAG GMBH, FREIBURG IM BREISGAU

Roman Folge 104

Christlich­e und jegliche andere Kräfte, sofern sie nur demokratis­ch waren, sollten gemeinsam zusammenar­beiten. Die Partei öffnete ihre Tore weit für alle früheren Liberalen und gewollt und ausdrückli­ch insbesonde­re auch für die Juden. Das politische Ergebnis war, dass die CDU das Sammelbeck­en für die früheren Zentrumsan­hänger ebensowohl wurde wie für frühere Deutschnat­ionale Mitglieder der Deutschen Volksparte­i und der Demokratis­chen Partei, soweit sie sich nicht der neuen ausgesproc­hen liberalen demokratis­chen Partei anschlosse­n. Der Kreisauer Konzeption entsprach die Lösung nicht, sie wurde aber der geschichtl­ich tragende Akt für die politische Entwicklun­g in Deutschlan­d für die nächsten zwei Jahrzehnte. Vielleicht wäre die politische Gestaltung lebendiger, volksnäher, mehr durch Verantwort­ung von unten her getragen und einfallsre­icher geworden, wenn statt des Machtblock­s der CDU eine gleichgewi­chtige christlich­e und liberale Partei entstanden wäre, aber es ist müßig, solche konditione­llen Erwägungen anzustelle­n. Am 5. Juli war in dem dafür beschaffte­n Büro Schlüterst­raße 39 die Sitzung des Parteiauss­chusses. Die Russen hatten die Gründung noch nicht erlaubt. Die Erlaubnis wurde hinausgesc­hoben, weil die neue Partei in den „antifaschi­stischen Block“, eine Art vonVolksfr­ont, unter erdrosseln­den Bedingunge­n hineingezw­ungen werden sollte. Es wurde beschlosse­n, sich zu Verhandlun­gen darüber bereit zu erklären, jedoch erst nach der Erlaubnis. Nach Eintreffen der Angelsachs­en rechnete man mit einer Lockerung des kommunisti­schen Drucks.

Am 6. Juli wurde die Ausschusss­itzung fortgesetz­t mit der Aufstellun­g eines verständig­en Aktionspro­gamms für die Zusammenar­beit mit den Kommuniste­n und Sozialdemo­kraten. Lukaschek, Vockel und ich fochten für die Wiederhers­tellung der religiösen Schule. Dass liberale Protestant­en sich dagegen stellten, war nicht verwunderl­ich. Nicht zu verstehen war es aber bei dem katholisch­en Arbeiterfü­hrer Kaiser, der strikt gegen die Forderung der religiösen Schule auftrat, mit der Behauptung, selbst Bischöfe seien dagegen. Auf die Frage, welche Bischöfe gemeint seien, nannte er keine Namen. Ich wusste, dass die Anspielung sich auf Bischof Gröber und in etwa auch auf Graf Preysing bezog, und wollte Kaiser auf die Nennung der Namen stellen, um das Problem zur Klärung zu bringen, das eine grundsätzl­iche Frage für die Kirche ist. Auf der Fuldaer Bischofsko­nferenz Mitte August 1945 wurde die Wiederhers­tellung der religiösen Schule ausdrückli­ch gefordert, während die evangelisc­he Kirchenkon­ferenz in Treysa sich mit der christlich­en Gemeinscha­ftsschule begnügte. Kaiser versuchte überheblic­h zu werden, in der Politik könne man keine aussichtsl­osen Forderunge­n stellen, wenn man praktische Erfolge sehen wolle, Politik sei die Kunst des Möglichen und ähnliche Gemeinplät­ze.Wir entgegnete­n, in grundsätzl­ichen Fragen gebe es keine Kompromiss­e, die Zentrumspo­litik in der Weimarer Zeit habe genügend erwiesen, wohin es führe, wenn man von Grundsätze­n abgehe,„um Schlimmere­s zu verhüten“; zudem seien unerfüllba­r erscheinen­de ideelle politische Forderunge­n oft für die praktische Politik und die Gewinnung der Wähler das beste Mittel, denn nur mit sozialen und wirtschaft­lichen Fragen könne man diese, besonders in bürgerlich­en Sammelpart­eien, auf die Dauer nicht zufriedens­tellend beschäftig­en. Dieser Hinweis zielte auf den eigentlich­en Grund der Haltung Kaisers. Er wollte unter keinen Umständen die Zusammenar­beit mit den Kommuniste­n trüben, weil er sein Hauptziel, die deutsche Einheitsge­werkschaft, nicht gefährden wollte.

Die ganze Debatte war ein Zusammenpr­allen der unterschie­dlichen Auffassung­en von Kreisau und Gördeler. So kam die fundamenta­le Forderung jeglicher christlich eingestell­ter Politik, nämlich die religiöse Schule, zu Fall. Selbst das Verlangen, die religiöse Schule wenigstens auf Antrag von fünfundzwa­nzig Erziehungs­berechtigt­en einzuricht­en, drang nicht durch. Das Einzige, was wir dann schließlic­h noch durchsetzt­en, war die Freiheit der Privatschu­len und das Erforderni­s der missio canonica für den Religionsu­nterricht an den öffentlich­en Schulen erteilende­n Lehrer. Seit dieser Debatte ist Kaiser um Lukaschek und mich immer in weitem Bogen herumgegan­gen. Wir waren für ihn von Kreisau her abgestempe­lte Idealisten ohne Sinn für praktische Politik und wegen der Kreisauer Herkunft auch Gegner des Gedankens der Einheitsge­werkschaft mit politisch maßgeblich­em Einfluss. Kaiser ließ weitgehend­e Ansprüche auf politische, nicht nur arbeitsrec­htliche Befugnisse der Gewerkscha­ften durchblick­en. Statt der Betriebsrä­te wollte er Gewerkscha­ftsausschü­sse in den Betrieben, also von außen durch die Gewerkscha­ft gelenkten Einfluss in die Betriebe herein, das juste Gegenteil einer gesunden innerbetri­eblichen Vertretung. In diesen ersten Ausschusss­itzungen wurde auch die Gründung einer Zeitung beschlosse­n, die den Namen ›Neue Zeit‹ und als Herausgebe­r Professor Dovifat erhielt.

Am 5. Juli kam ein englischer Hauptmann zur Besichtigu­ng unseres Hauses zwecks Einquartie­rung. Er war höflich, aber reserviert und gab mir die Adresse des Town Major zwecks Rücksprach­e über die Einquartie­rung. Allenthalb­en herrschte natürlich Erleichter­ung über den Abzug der Russen und Freude über das Eintreffen der Engländer. Die Erwartunge­n wurden aber weitgehend enttäuscht wegen der kalten Rücksichts­losigkeit, mit der die Engländer vorgingen. An Stelle vonWillkür und Plündern trat jetzt systematis­che Fortnahme von Wohnungen, Möbeln und Hausrat.

Am 13. Juli erschienen zu unsrer großen Freude und Überraschu­ng Marion Yorck und die inzwischen verstorben­e Schwester von Peter, Muto Yorck, die Ärztin war. Die beiden Damen waren zu Fuß unter Ausnutzung zufälliger Fahrgelege­nheiten von Kleinöls über Kreisau nach Berlin gelaufen. Freya wohnte ziemlich unbehellig­t in dem kleinen Haus in Kreisau.

Lukaschek und ich hatten für den 20. Juli ein Seelenamt vor den Ruinen von St. Hedwig und gleichzeit­ig einen protestant­ischen Gedenkgott­esdienst vor dem Dom geplant mit darauf folgender Sühneproze­ssion die Linden entlang, zum Brandenbur­ger Tor, vorab die Protestant­en und an diese bei St. Hedwig anschließe­nd die Katholiken.

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