Als der Wagen nicht kam
Roman Folge 104
Christliche und jegliche andere Kräfte, sofern sie nur demokratisch waren, sollten gemeinsam zusammenarbeiten. Die Partei öffnete ihre Tore weit für alle früheren Liberalen und gewollt und ausdrücklich insbesondere auch für die Juden. Das politische Ergebnis war, dass die CDU das Sammelbecken für die früheren Zentrumsanhänger ebensowohl wurde wie für frühere Deutschnationale Mitglieder der Deutschen Volkspartei und der Demokratischen Partei, soweit sie sich nicht der neuen ausgesprochen liberalen demokratischen Partei anschlossen. Der Kreisauer Konzeption entsprach die Lösung nicht, sie wurde aber der geschichtlich tragende Akt für die politische Entwicklung in Deutschland für die nächsten zwei Jahrzehnte. Vielleicht wäre die politische Gestaltung lebendiger, volksnäher, mehr durch Verantwortung von unten her getragen und einfallsreicher geworden, wenn statt des Machtblocks der CDU eine gleichgewichtige christliche und liberale Partei entstanden wäre, aber es ist müßig, solche konditionellen Erwägungen anzustellen. Am 5. Juli war in dem dafür beschafften Büro Schlüterstraße 39 die Sitzung des Parteiausschusses. Die Russen hatten die Gründung noch nicht erlaubt. Die Erlaubnis wurde hinausgeschoben, weil die neue Partei in den „antifaschistischen Block“, eine Art vonVolksfront, unter erdrosselnden Bedingungen hineingezwungen werden sollte. Es wurde beschlossen, sich zu Verhandlungen darüber bereit zu erklären, jedoch erst nach der Erlaubnis. Nach Eintreffen der Angelsachsen rechnete man mit einer Lockerung des kommunistischen Drucks.
Am 6. Juli wurde die Ausschusssitzung fortgesetzt mit der Aufstellung eines verständigen Aktionsprogamms für die Zusammenarbeit mit den Kommunisten und Sozialdemokraten. Lukaschek, Vockel und ich fochten für die Wiederherstellung der religiösen Schule. Dass liberale Protestanten sich dagegen stellten, war nicht verwunderlich. Nicht zu verstehen war es aber bei dem katholischen Arbeiterführer Kaiser, der strikt gegen die Forderung der religiösen Schule auftrat, mit der Behauptung, selbst Bischöfe seien dagegen. Auf die Frage, welche Bischöfe gemeint seien, nannte er keine Namen. Ich wusste, dass die Anspielung sich auf Bischof Gröber und in etwa auch auf Graf Preysing bezog, und wollte Kaiser auf die Nennung der Namen stellen, um das Problem zur Klärung zu bringen, das eine grundsätzliche Frage für die Kirche ist. Auf der Fuldaer Bischofskonferenz Mitte August 1945 wurde die Wiederherstellung der religiösen Schule ausdrücklich gefordert, während die evangelische Kirchenkonferenz in Treysa sich mit der christlichen Gemeinschaftsschule begnügte. Kaiser versuchte überheblich zu werden, in der Politik könne man keine aussichtslosen Forderungen stellen, wenn man praktische Erfolge sehen wolle, Politik sei die Kunst des Möglichen und ähnliche Gemeinplätze.Wir entgegneten, in grundsätzlichen Fragen gebe es keine Kompromisse, die Zentrumspolitik in der Weimarer Zeit habe genügend erwiesen, wohin es führe, wenn man von Grundsätzen abgehe,„um Schlimmeres zu verhüten“; zudem seien unerfüllbar erscheinende ideelle politische Forderungen oft für die praktische Politik und die Gewinnung der Wähler das beste Mittel, denn nur mit sozialen und wirtschaftlichen Fragen könne man diese, besonders in bürgerlichen Sammelparteien, auf die Dauer nicht zufriedenstellend beschäftigen. Dieser Hinweis zielte auf den eigentlichen Grund der Haltung Kaisers. Er wollte unter keinen Umständen die Zusammenarbeit mit den Kommunisten trüben, weil er sein Hauptziel, die deutsche Einheitsgewerkschaft, nicht gefährden wollte.
Die ganze Debatte war ein Zusammenprallen der unterschiedlichen Auffassungen von Kreisau und Gördeler. So kam die fundamentale Forderung jeglicher christlich eingestellter Politik, nämlich die religiöse Schule, zu Fall. Selbst das Verlangen, die religiöse Schule wenigstens auf Antrag von fünfundzwanzig Erziehungsberechtigten einzurichten, drang nicht durch. Das Einzige, was wir dann schließlich noch durchsetzten, war die Freiheit der Privatschulen und das Erfordernis der missio canonica für den Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen erteilenden Lehrer. Seit dieser Debatte ist Kaiser um Lukaschek und mich immer in weitem Bogen herumgegangen. Wir waren für ihn von Kreisau her abgestempelte Idealisten ohne Sinn für praktische Politik und wegen der Kreisauer Herkunft auch Gegner des Gedankens der Einheitsgewerkschaft mit politisch maßgeblichem Einfluss. Kaiser ließ weitgehende Ansprüche auf politische, nicht nur arbeitsrechtliche Befugnisse der Gewerkschaften durchblicken. Statt der Betriebsräte wollte er Gewerkschaftsausschüsse in den Betrieben, also von außen durch die Gewerkschaft gelenkten Einfluss in die Betriebe herein, das juste Gegenteil einer gesunden innerbetrieblichen Vertretung. In diesen ersten Ausschusssitzungen wurde auch die Gründung einer Zeitung beschlossen, die den Namen ›Neue Zeit‹ und als Herausgeber Professor Dovifat erhielt.
Am 5. Juli kam ein englischer Hauptmann zur Besichtigung unseres Hauses zwecks Einquartierung. Er war höflich, aber reserviert und gab mir die Adresse des Town Major zwecks Rücksprache über die Einquartierung. Allenthalben herrschte natürlich Erleichterung über den Abzug der Russen und Freude über das Eintreffen der Engländer. Die Erwartungen wurden aber weitgehend enttäuscht wegen der kalten Rücksichtslosigkeit, mit der die Engländer vorgingen. An Stelle vonWillkür und Plündern trat jetzt systematische Fortnahme von Wohnungen, Möbeln und Hausrat.
Am 13. Juli erschienen zu unsrer großen Freude und Überraschung Marion Yorck und die inzwischen verstorbene Schwester von Peter, Muto Yorck, die Ärztin war. Die beiden Damen waren zu Fuß unter Ausnutzung zufälliger Fahrgelegenheiten von Kleinöls über Kreisau nach Berlin gelaufen. Freya wohnte ziemlich unbehelligt in dem kleinen Haus in Kreisau.
Lukaschek und ich hatten für den 20. Juli ein Seelenamt vor den Ruinen von St. Hedwig und gleichzeitig einen protestantischen Gedenkgottesdienst vor dem Dom geplant mit darauf folgender Sühneprozession die Linden entlang, zum Brandenburger Tor, vorab die Protestanten und an diese bei St. Hedwig anschließend die Katholiken.