Der Nürburgring hat sich zum Freizeitzentrum für die ganze Familie entwickelt. Autofans drehen eine Runde auf der Eifel-Rennstrecke, Enthusiasten bewundern historische Fahrzeugmodelle. Das Paradies für PS-Freunde
NÜRBURGRING Sind alle Geschichten über den Nürburgring schon erzählt, alle Heldenepen von todesmutigen Rennfahrern, die durch die Grüne Hölle jagen? Sind alle Bestzeiten, tödlichen Unfälle, alle unvergesslichen und tragischen Rennverläufe statistisch erfasst? Und wurde nicht schon genug über die knorrigen und wortkargen Menschen am und rund um den Ring geschrieben? Gibt es nicht schon zu viele Abhandlungen über die sagenhafte Landschaft der Eifel mit ihrem höchsten Punkt, der Hohen Acht? Nein, dieses Buch, das nach Benzin riecht und mit Tränen vor Glück und Trauer getränkt ist, hat auch im 92. Jahr des Bestehens des Nürburgrings noch viele leere Seiten. Und jeden Tag wird eine mit einer neuen spannenden Geschichte beschrieben, die sich lohnt, erzählt zu werden.
Ein ganz gewöhnlicher Dienstagabend:
Punkt 17.30 Uhr geht die Schranke an der Auffahrt zur Nordschleife das erste Mal hoch. Für zwei Stunden gehört die legendäre Strecke jetzt jedermann. „Touristenfahrten“heißt das im Fachjargon. Für 25
Euro darf man eine Runde über die 20,83 Kilometer lange Strecke drehen. Hatzenbach, Flugplatz, Adenauer Forst, Fuchsröhre, Breitscheid, Bergwerk, Karussell, Brünnchen, Pflanzgarten, Schwedenkreuz und die Döttinger Höhe mit ihrer schier endlosen Geraden: Streckenabschnitte mit klangvollen Namen, die fast jeder kennt, der sich jetzt auf das Asphaltband mit seinen 40 Rechts- und 33 Linkskurven begibt.
Eine lange Schlange hat sich hinter der Schranke gebildet. Viele Porsche-Fahrer sind heute an den Ring gereist. Die meisten mit spanischem Autokennzeichen. Ein kompletter Porsche-Klub aus Barcelona ist da. Vier Tage lang wollen die Piloten ihre 400 PS starken Sportwagen über die Rennstrecke jagen. Aber auch Russen, Belgier, Engländer und Deutsche stehen in der „Startaufstellung“. Ein 300.000 Euro teurer McLaren ist dabei, gleich dahinter ein Renault Twingo – tiefergelegt. Keine 20 Minuten später sind 107 Autos auf dem Kurs.
Von der Terrasse des Devil‘s Diner, so heißt das Bistro an der Zufahrt zur Nordschleife, verfolgt Josef Krein das Geschehen. Der 73-Jährige ist ein Kind des Nürburgrings. In Welcherath, drei Kilometer von Start und Ziel entfernt, ist er geboren und dort sein Leben lang auch geblieben. Schon als Junge hat er begeistert zugeschaut, wenn der Motorradrennfahrer Helmut Hallmeier auf dem Welcherather Schulhof an seinem Zweirad geschraubt hat, um auf dem Ring Rennen zu gewinnen. Später hat er sich an den Kassenhäuschen oder auf den Parkplätzen ein paar Mark dazuverdient.
18 Jahre lang hat er für den Ring in verschiedenen Positionen gearbeitet. Seit 2007 gehört er als Rentner zur mobilen Truppe, die bei Veranstaltungen einspringt. „Es macht mir immer noch Spaß“, erzählt er. Krein hat alle Höhen und Tiefen der vergangenen fünf Jahrzehnte mitgemacht. Beim schweren Unfall von Niki Lauda 1976, der das Ende der Formel 1 für den Ring bedeutete, war er dabei, und auch bei der Eröffnung des neuen Grand-Prix-Kurses 1984.
Das Chaos, mit dem der Ring ins 21. Jahrhundert gestartet ist und das mit dem Ausbau zum Freizeit- und Businesszentrum begann, ist ihm so bewusst, als sei es gestern gewesen. Für mehr als 450 Millionen Euro wurden ein Gastronomiedorf, ein überdachter Boulevard mit integrierter Ring-Arena, neuer Haupttribüne, Geschäften, Kartbahn und einem Indoor-Erlebnispark samt Rennwagensammlung gebaut. Der Ring ging über dieses Großprojekt in die Insolvenz, wurde schließlich an einen russischen Oligarchen verkauft. „Wir hatten als Mitarbeiter Angst, die ganze Region hatte Angst, dass der Ring das nicht überlebt“, berichtet Josef Krein.
Der Nürburgring hat überlebt. Aus Zweifeln, die den neuen Chefs entgegengebracht wurden, ist Zuversicht geworden.„Die machen alle einen guten Job“, ist Krein überzeugt. Und auch die neuen Angebote werden immer besser angenommen.
Der Indoor-Freizeitpark Ring-Werk direkt an Start und Ziel bietet die ganze Bandbreite des Motorsports. Historische Fahrzeuge aus 90 Jahren Renngeschehen findet man ebenso wie Fahrgeschäfte, Rennsportsimulatoren und eine Formel-1-Box zum Selberschrauben. Gleich nebenan ist die Kartbahn mit elektronisch betriebenen Fahrzeugen. Radfahrer, Jogger und auch Wanderer haben den Nürburgring und sein Umland für sich entdeckt. Um die Nordschleife gibt es Musikfestivals wie Rock am Ring oder das Elektromusikspektakel New Horizon locken an die Rennstrecke. Laufund Radsportveranstaltungen und der Hindernislauf für Hartgesottene, der „Strongmanrun“, ergänzen das sportliche Angebot ganz ohne PS.
Zu Andreas Gülden kommen jene, die den Adrenalinkick per Motorkraft bevorzugen. Gülden ist Chefinstruktor der Nürburgring Driving Academy und verantwortlich für alle fahrdynamischenVeranstaltungen, die die neue GmbH am Ring anbietet. Von der klassischen Rennfahrerschule bis hin zum Kegelklubausflug mit motorsportlichen Aktivitäten reicht sein Portfolio. 40, 30, 20, so seine Vita in Kurzform. „40 Jahre alt, 30 Jahre Motorsport, 20 Jahre am Nürburgring“, erklärt der zweifache Familienvater. Für seinen Job brennt er wie am ersten Tag, sagt er.„Wir haben doch den schönsten Job, den man sich vorstellen kann. Wir machen Menschen glücklich, wir lassen Träume wahr werden.“Wie den der 68-jährigen Düsseldorferin, die Gülden bei einer Co-Piloten-Fahrt, so heißen die Renntaxifahrten, auf seinem Mercedes SLS AMG mit 580 PS über die Nordschleife fuhr. „Der konnte es nicht schnell genug gehen. Nur die neue Hüfte, die man ihr vor ein paar Wochen eingesetzt habe, müsse ganz bleiben, hat sie gesagt.“
Andreas Gülden ist mit seinem giftgrünen SLS die Nummer 108, die an jenem Abend auf die Nordschleife geht. Mit Rennanzug und Helm ausgestattet sowie in Dreipunktgurten in den Sportsitz festgezurrt, steigt der Adrenalinspiegel seines Beifahrers. Als Gülden einen etwas pomadig dahinrollenden Audi-Kombi überholt hat, gibt er Gas. Bei der Einfahrt in den Hazenbachbogen beginnt Gülden, seinem Fahrgast über Funk zu erklären, was folgt: Streckenabschnitte, Anfahrtswinkel von Kurven, Tempoangaben, Schaltvorgänge – Gülden lässt kein Detail aus. Als er seinen Gast auffordert, doch jetzt mal die Landschaft zu genießen, klingt das für den zynisch. Seine Gesichtszüge sind wie vereist, der Blick starr auf die Strecke gerichtet. Die letzten Buckel, noch einmal den Kopf fixieren, ab ins kleine Karussell (Schwalbenschwanz), und schon geht es über die Döttinger Höhe zurück zur Nordschleifen-Einfahrt.
Fürs große Buch der Nürburgring-Geschichte wird die Runde wohl nicht reichen, in ewiger Erinnerung wird sie bleiben.