Schläge, Liebe, Hoffnung
Über 30.000 Frauen wurden 2018 Opfer von häuslicher Gewalt. Viele finden in Frauenhäusern Schutz. Eine Betroffene aus Wesel erzählt.
Der letzte Schlag trifft Zarah M.* an einem Nachmittag im August. Äußerlich bleibt sie unversehrt, innerlich ist zu diesem Zeitpunkt vieles längst zerstört. Unter Tränen greift sie zum Handy, nachdem ihr Ehemann fluchtartig aus der Wohnung gestürmt ist. Dafür steht wenig später die Polizei vor der Tür, in Begleitung des Ordnungsamts. Es ist der Spätsommer im Jahr 2012, als Zarah M. vor die endgültige Wahl gestellt wird: Bei diesem Mann bleiben oder ihre Kinder behalten und ein neues Leben beginnen.
38.297 Opfer von Gewalt unter Partnern hat die Polizei in NRW vergangenes Jahr erfasst – fast 83 Prozent der Opfer sind Frauen. Täter wie Opfer haben in über 60 Prozent der Fälle die deutsche Staatsbürgerschaft. Diese erfassten Werte sind seit mindestens sieben Jahren recht konstant, die Dunkelziffer ist jedoch seit jeher hoch. Meistens werden die Frauen Opfer von Sexualverbrechen oder vorsätzlichen Körperverletzungen. Nicht erfasst sind die psychischen Schäden durch Erniedrigungen und Unterdrückung. All das hat auch Zarah M. erlebt.
Fast zwei Jahrzehnte waren sie und ihr Mann verheiratet, die ersten Jahre glücklich. „Sonst hätte ich kaum fünf Kinder mit ihm bekommen“, erzählt sie. Die Familie lebte im Wohlstand, der Mann verdiente gut, dieWohnung in Rheinland-Pfalz war großzügig, nach ZarahsVorstellungen eingerichtet, auch ihr eigenes Auto hatte sie. Rückblickend sind es materielle Entschädigungen, die sie zufriedenstellen sollten. Die wichtigen Dinge, Unterschriften und Entscheidungsrecht über Bankkonten, den Mietvertrag oder amtliche Unterlagen, blieben ausschließlich dem Mann vorbehalten. Wollte Zarah mitentscheiden, wurde er ausfallend.
2006, sechs Jahre vor dem letzten Schlag, der letzten Eskalation, kommt es erstmals zu Handgreiflichkeiten. „Er war immer schon schnell wütend und sehr emotional“, sagt Zarah. Gewalt sei in ihrer Schwiegerfamilie normal gewesen, auch die Brüder des Mannes hätten unter dem Vater gelitten. Als Entschuldigung lässt sie das nicht gelten. Sei sie anfangs über die Gewalt ihres Mannes schockiert gewesen, beginnt sie bald, sich zu wehren und die Polizei anzurufen.
Bei den Sicherheitsbehörden greift man landesweit immer häufiger durch. Die Zahl derWohnungsverweisungen und Rückkehrverbote für gewalttätige Partner sind über einen Zeitraum von zehn Jahren um über 50 Prozent gestiegen. Gleiches
gilt für die Zahl der Opfer, die an Beratungsstellen verwiesen wurden, um von dort beispielsweise an Frauenhäuser vermittelt zu werden. „Das ist sicherlich ein Ergebnis der besseren Zusammenarbeit mit der Polizei. DasWissen, dass es Frauenhäuser überhaupt gibt, hat in den letzten Jahren stark zugenommen“, erklärt Claudia Fritsche von der Koordinierungsstelle Autonomer Frauenhäuser in NRW.
Besonders Frauen aus Migrantenfamilien seien im Fokus der Netzwerkarbeit. „Gewalt gegen Frauen ist gesellschaftlich weit verbreitet, jeder Mensch hat Betroffene in seinem Umfeld“, sagt Fritsche. Aber: „Gerade Frauen mit Migrationshintergrund wissen gar nicht, dass ihnen geholfen werden kann. Dass sie hier Rechte haben. Und weil sie keinen Ärger mit ihrem Mann wollen, schweigen sie lieber.“
Die Angst vor den Konsequenzen kennt auch Zarah, die wie ihr Mann nordafrikanische Wurzeln hat. Doch nach der ersten Handgreiflichkeit zerbricht in ihr etwas. Sie denkt erstmals an Trennung, aber ihr fehlt der Mut. „Er hat mir immer wieder gedroht: Wenn du gehst, bringe ich dich um“, erzählt sie. Auf die Drohungen folgen stets Entschuldigungen, große Worte, leere Versprechen. „Er hat dann eine Zeit lang versucht, seineWut zu kontrollieren, man konnte es richtig sehen. Aber er hat das nie lange geschafft.“Beim nächsten, vielleicht beim übernächsten Streit landet seine Hand wieder in ihrem Gesicht.
Schließlich gibt sie auf, an jenem Nachmittag im August 2012 zeigt sie ihren Mann an, verlässt mit den Kindern die gemeinsameWohnung und geht. Weil die Familie im Ausland lebt und der Mann die Kontrolle über alle Finanzen hat, bleibt nur die Flucht ins Frauenhaus. Nicht in eines in der Umgebung, sondern weit weg, wo er sie nicht finden kann. Eine Polizeieskorte bringt sie in eine von drei Unterkünften im Kreis Wesel.
Dass Zarah M. ihren neuenWohnort aus drei Unterkünften wählen konnte, ist schon damals eine Ausnahme, heute ist es nahezu ausgeschlossen. Die landesweit momentan 62 Unterkünfte sind ganzjährig vollständig belegt. 589 Plätze werden vom Land gefördert – 18 mehr als noch vor zwei Jahren. Bis 2022 will das Land in Köln und Bochum zwei neue Häuser fördern und das Angebot für Frauen in Not auf 620 Plätze aufstocken. Und auch die finanziellen Zuschüsse wurden dieses Jahr um rund 500.000 Euro auf insgesamt 10,4 Millionen Euro erhöht.
„Die Situation ist nicht mehr katastrophal“, sagt Gabriele Pollaschek von der Caritas im Bistum Essen.
Zarah M. Ehemalige Bewohnerin eines Frauenhauses
„Aber sie ist immer noch sehr angespannt.“So wurden 2017 in NRW fast 7400 Anfragen abgelehnt, weil kein Platz zur Verfügung stand. Die 2018er Zahlen liegen erst Ende dieses Jahres endgültig vor, sollen aber kaum aufweichen. „90 Prozent der Frauen kommen mit Kindern. Wir leisten psychologische Hilfe, helfen bei Behördengängen, suchen nach neuen Wohnmöglichkeiten“, sagt Pollaschek. Ihr Fazit: „Frauenhäuser sind immer noch schlecht finanziert.“
Zarah M. bleibt knapp ein halbes Jahr im Frauenhaus. „Ich bin vier Tage, nachdem wir eingezogen sind, losgegangen und habe mirWohnungen angesehen“, sagt sie. Aber: „Die einen wollten keine Kinder, andere keine Sozialhilfeempfängerin.“Weil ihr Mann stets allein für das Einkommen sorgen wollte, und sie für die fünf Kinder sorgen musste, war Zarah nach ihrer Ausbildung nie mehr erwerbstätig. KeineWohnung, kein Job, kein Geld – „ich stand vor dem Nichts“.
Auch ihre fünf Kinder leiden unter den Umständen. Sie müssen sich das Spielzimmer mit bis zu acht weiteren Frauen und deren Kindern teilen.„Am Anfang war das schwer. Besonders für den Ältesten, der war damals 15 und mitten in der Pubertät“, sagt Zarah.
Dass junge Männer in diesem Alter überhaupt noch mit ins Frauenhaus einziehen dürfen, ist ohnehin ungewöhnlich. „Grundsätzlich sollen die Frauen ihre Kinder zwar mitbringen dürfen“, sagt Christine Merten-Stephani vom Frauenhaus Moers. Dennoch wurden dort im vergangenen Jahr lediglich fünf Kinder, die älter als 14 Jahre sind, aufgenommen. Denn: „Viele Frauen sind so traumatisiert, dass jugendliche Männer ihnen Angst einjagen“, sagt Merten-Stephani, und ihre Kollegin Ursula Reuther ergänzt: „Wir versuchen solche Situationen dadurch zu lösen, dass wir dem Jugendlichen ein eigenes Zimmer als Rückzugsort geben. Wenn aber die Situation es nicht zulässt, müssen wir auch Frauen mit älteren Söhnen ablehnen.“
Die Angst vor Männern treibt auch Zarah M. nach ihrem Einzug um. Genauer gesagt: die Angst vor ihrem Mann. Die Angst, dass er sie aufspürt. „Er hat in den Schulen angerufen, bei Freunden, bei meiner Familie. Er hat die sozialen Netzwerke durchsucht, alles“, sagt Zarah. Von ihrem neuen Lebensmittelpunkt erzählt sie monatelang niemandem, nicht mal ihrer besten Freundin. Die sozialen Netzwerke sind auch für die Kinder tabu. Ihr Mann wird unterdessen von einem Gericht zu einer Anti- Aggressionstherapie verurteilt.
Für viele Männer ist die Therapie eine Gelegenheit, der Frau aufrichtiges Schuldbewusstsein zu beweisen. „Unsere Erfahrung zeigt aber, dass solche Maßnahmen leider selten langfristig etwas bringen“, sagt Ursula Reuther vom Moerser Frauenhaus.Viele Frauen kehren danach zu ihren Männern zurück, kämen dann aber wenig später nach neuerlicher Gewalt wieder ins Frauenhaus. 15 Mal passierte das im Jahr 2018. Insgesamt dreimal werden die Frauen aufgenommen, zweimal dürfen sie also zurückkommen, „aber irgendwann wird das zu einem festen Prozedere, zu einer unendlichen Geschichte, da können wir dann nicht mehr helfen“.
Zarah M. schafft den Absprung. Im Frühjahr 2013 findet sie eine neue Bleibe am Niederrhein für die nunmehr sechsköpfige Familie. Dennoch begleitet ihr altes Leben sie weiterhin: Ein Jahr nach ihrer Flucht, im Herbst 2013, lässt sie sich scheiden. Kurz darauf klagt ihr Ex-Mann auf das Besuchsrecht für die Kinder. Aus den Gerichtsakten erfährt er, wo M. mittlerweile lebt. „Das hat mich geärgert, aber auch wieder verängstigt, klar. Aber ich habe entschieden, offensiv damit umzugehen.“Während der älteste Sohn bis heute jeden Kontakt mit dem Vater ablehnt, will die jüngste Tochter ihn sehen. Die beiden treffen sich im Kreis Wesel, Zarah bringt sie hin und holt sie ab – mehr passiert nicht.
Bis heute hat Zarah M. kaum ein Wort mehr mit ihrem Ex-Mann gesprochen.Von ihrer besten Freundin weiß sie, dass er seit einigen Jahren eine neue Beziehung führt. „Das zu erfahren, war der zweite große Moment. Da war nur Erleichterung in mir. Ich dachte: Jetzt bist du ihn endgültig los.“Sie selbst hat bislang keinen neuen Mann in ihr Leben gelassen. „Es ist nicht so, dass ich heute noch Angst vor Männern hätte. Aber ich habe erstmal andere Prioritäten.“
Zum Beispiel beruflich weiterkommen. Zarah spricht nahezu akzentfrei Deutsch, aber auch fließend Arabisch – eine gefragte, hilfreiche Kombination. So arbeitet sie zurzeit als Dolmetscherin für verschiedene soziale Organisationen. Jüngst hat ihr ein Jobcenter im Kreis Wesel einen Job angeboten.Wenn sie davon erzählt, strahlen ihre Augen. „Es gibt ein Leben nach dem Frauenhaus“, sagt sie.
„Es ist nicht so, dass ich heute noch Angst vor Männern hätte. Aber ich habe erstmal andere Prioritäten“