Anna Netrebko – Krise oder nur Kratzen im Hals?
Die berühmte Sängerin hat schon in Salzburg eine Vorstellung absagen müssen. Jetzt hat sie Bayreuth für diesen Sommer komplett gecancelt.
BAYREUTH Sänger haben nie Schwierigkeiten mit Fluggesellschaften. Ihr Instrument darf immer mit in die Kabine. Sie müssen zudem keine Saiten bespannen, keine Klappen polstern, keine Ventile ölen. Sänger haben alles im Hals, aber es ist nicht nur der Hals, der da Musik macht – es ist ein Zusammenspiel von Nasennebenhöhlen, Zunge, Lippen, Kehlkopf, Gehirn, Lunge, Zwerchfell, Stimmbändern. Schleimhäute müssen intakt, die Ohrtrompeten frei sein. Ein kompliziertes System.
Und ein störanfälliges obendrein: Schnupfen, Husten, Heiserkeit plagen den Sänger mehr als andere Musiker. Wenn der HNO-Arzt oder Phoniater den Kopf schüttelt, steht auf dem Attest: Nicht singfähig! Das bekommt der Sänger immer, auch wenn er sich nur unwohl fühlt und der Blick in den Hals keinen Befund erbringt. Er bekommt das Attest sogar, wenn er gar nichts hat, aber nicht auftreten möchte. Dann sagt er: Ich habe seit gestern einen grässlichen Tinnitus. Der ist weder nachprüfbar noch nachweisbar, auch nicht im Hörtest.
Eine seltsame Situation ist jetzt bei Anna Netrebko eingetreten, der russischen Sopranistin. Sie habe ihre beiden Bayreuther Auftritte am 14. und 18. August abgesagt, teilten die Festspiele mit – und zwar „erschöpfungsbedingt“. Die Ergänzung ist vielsagend: „Zwar ist ihre Stimme nicht angegriffen, jedoch folgt sie dringlichem ärztlichen Rat zu einer dreiwöchigen Pause, um sich vollständig regenerieren zu können.“
Das ist ein pikanter Kasus. Schon bei den Salzburger Festspielen hatte sie die mittlere von drei konzertanten Aufführungen der Oper „Adriana Lecouvreur“wegen „Erkältung“abgesagt. Das Publikum tobte vor Wut. Drei Tage später war die Erkältete aber wieder gesund,„so gesund, wie ein Mensch überhaupt nur sein kann“, jubelte die „Süddeutsche Zeitung“, deren Rezensent das Unmögliche vollbracht hat: mit seinen Ohren in Netrebkos Hals zu schauen. Hinterher habe das Auditorium wieder getobt – vor Begeisterung. Zwei Tage später war sie regenerationspflichtig. Das ist irritierend.
Es gibt drei mögliche Erklärungen, die alle nicht vollständig befriedigen. Die erste: Netrebko ist leicht angeschlagen, konnte das in der dritten Salzburger Aufführung zwar kaschieren, wie überhaupt manche Sänger immer noch toll klingen, auch wenn sie ein Kratzen im Hals spüren. Doch in Bayreuth und seinem Publikum wollte sie sich dann doch nicht präsentieren. Dort werden Sänger schon mal gnadenlos ausgebuht, auch wenn der Gnadenlose 400 Euro für seine Karte bezahlt hat. Dieses Ticket berechtigt ihn ja nicht nur zum Besuch der Vorstellung, sondern auch zur Teilhabe an der Arena, an der Hinrichtung oder Verklärung von Künstlern. Da werden Menschen schon mal zu Cäsaren oder Henkern.
Die zweite Möglichkeit ist abstrakter. Ihre Bayreuther Absage hängt zusammen mit der Demission ihres Ziehvaters, des Dirigenten Valery Gergiev. Den hatten Publikum und Musikkritik nach seinem Bayreuther „Tannhäuser“dermaßen abgestraft, dass schon bald durchsickerte, dass Gergiev 2020 gar nicht mehr am Hügel auftreten will/soll/ darf. Wer da wem abgesagt hat, darf in der Grauzone der Höflichkeit unbeantwortet bleiben. Aber es könnte sein, dass Netrebko ihren väterlichen Maestro Gergiev gerächt hat.
Die dritte Option ist die leiseste aller Ahnungen – und eine Befürchtung: Netrebko steckt in einer Krise. Vielleicht ist die Stimme nicht mehr so belastbar, vielleicht hat sie sich zu viel zugemutet. Dann fiele die Bayreuther Absage auf ein Datum, das wir als Wendepunkt ihrer Karriere ansehen müssten.