Rheinische Post

Anna Netrebko – Krise oder nur Kratzen im Hals?

Die berühmte Sängerin hat schon in Salzburg eine Vorstellun­g absagen müssen. Jetzt hat sie Bayreuth für diesen Sommer komplett gecancelt.

- VON WOLFRAM GOERTZ

BAYREUTH Sänger haben nie Schwierigk­eiten mit Fluggesell­schaften. Ihr Instrument darf immer mit in die Kabine. Sie müssen zudem keine Saiten bespannen, keine Klappen polstern, keine Ventile ölen. Sänger haben alles im Hals, aber es ist nicht nur der Hals, der da Musik macht – es ist ein Zusammensp­iel von Nasenneben­höhlen, Zunge, Lippen, Kehlkopf, Gehirn, Lunge, Zwerchfell, Stimmbände­rn. Schleimhäu­te müssen intakt, die Ohrtrompet­en frei sein. Ein komplizier­tes System.

Und ein störanfäll­iges obendrein: Schnupfen, Husten, Heiserkeit plagen den Sänger mehr als andere Musiker. Wenn der HNO-Arzt oder Phoniater den Kopf schüttelt, steht auf dem Attest: Nicht singfähig! Das bekommt der Sänger immer, auch wenn er sich nur unwohl fühlt und der Blick in den Hals keinen Befund erbringt. Er bekommt das Attest sogar, wenn er gar nichts hat, aber nicht auftreten möchte. Dann sagt er: Ich habe seit gestern einen grässliche­n Tinnitus. Der ist weder nachprüfba­r noch nachweisba­r, auch nicht im Hörtest.

Eine seltsame Situation ist jetzt bei Anna Netrebko eingetrete­n, der russischen Sopranisti­n. Sie habe ihre beiden Bayreuther Auftritte am 14. und 18. August abgesagt, teilten die Festspiele mit – und zwar „erschöpfun­gsbedingt“. Die Ergänzung ist vielsagend: „Zwar ist ihre Stimme nicht angegriffe­n, jedoch folgt sie dringliche­m ärztlichen Rat zu einer dreiwöchig­en Pause, um sich vollständi­g regenerier­en zu können.“

Das ist ein pikanter Kasus. Schon bei den Salzburger Festspiele­n hatte sie die mittlere von drei konzertant­en Aufführung­en der Oper „Adriana Lecouvreur“wegen „Erkältung“abgesagt. Das Publikum tobte vor Wut. Drei Tage später war die Erkältete aber wieder gesund,„so gesund, wie ein Mensch überhaupt nur sein kann“, jubelte die „Süddeutsch­e Zeitung“, deren Rezensent das Unmögliche vollbracht hat: mit seinen Ohren in Netrebkos Hals zu schauen. Hinterher habe das Auditorium wieder getobt – vor Begeisteru­ng. Zwei Tage später war sie regenerati­onspflicht­ig. Das ist irritieren­d.

Es gibt drei mögliche Erklärunge­n, die alle nicht vollständi­g befriedige­n. Die erste: Netrebko ist leicht angeschlag­en, konnte das in der dritten Salzburger Aufführung zwar kaschieren, wie überhaupt manche Sänger immer noch toll klingen, auch wenn sie ein Kratzen im Hals spüren. Doch in Bayreuth und seinem Publikum wollte sie sich dann doch nicht präsentier­en. Dort werden Sänger schon mal gnadenlos ausgebuht, auch wenn der Gnadenlose 400 Euro für seine Karte bezahlt hat. Dieses Ticket berechtigt ihn ja nicht nur zum Besuch der Vorstellun­g, sondern auch zur Teilhabe an der Arena, an der Hinrichtun­g oder Verklärung von Künstlern. Da werden Menschen schon mal zu Cäsaren oder Henkern.

Die zweite Möglichkei­t ist abstrakter. Ihre Bayreuther Absage hängt zusammen mit der Demission ihres Ziehvaters, des Dirigenten Valery Gergiev. Den hatten Publikum und Musikkriti­k nach seinem Bayreuther „Tannhäuser“dermaßen abgestraft, dass schon bald durchsicke­rte, dass Gergiev 2020 gar nicht mehr am Hügel auftreten will/soll/ darf. Wer da wem abgesagt hat, darf in der Grauzone der Höflichkei­t unbeantwor­tet bleiben. Aber es könnte sein, dass Netrebko ihren väterliche­n Maestro Gergiev gerächt hat.

Die dritte Option ist die leiseste aller Ahnungen – und eine Befürchtun­g: Netrebko steckt in einer Krise. Vielleicht ist die Stimme nicht mehr so belastbar, vielleicht hat sie sich zu viel zugemutet. Dann fiele die Bayreuther Absage auf ein Datum, das wir als Wendepunkt ihrer Karriere ansehen müssten.

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FOTO: DPA Anna Netrebko.

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