Als der Wagen nicht kam
Roman Folge 110
Sogar die Nonnen huschten mit Fastnachtsmützen in der Hand durch das Haus, die sie dann in der Klausur bei der Rekreation aufsetzen wollten. Die zugezogenenVertriebenen, sogar der jedem Spaß geneigte Lukaschek, sahen mit mitleidigem Abscheu auf diesen so elendswidrigen Trubel. Mit scheint aber diese Fastnachtsnarretei – abgesehen von ihrer Kommerzialisierung – eine kraftvolle Bejahung des Lebens und der Überwindbarkeit der Nöte der Welt zu sein, zumal an einem Platz, wo man schon vor zweitausend Jahren dieselben Saturnalien feierte und auf dem schimmernden, im Kriege neben dem Dom wiederausgegrabenen Mosaikboden tanzte, obschon die Barbaren nur dreißig Kilometer entfernt standen. Ganz ohne Leichtsinn lässt sich das Leben nicht leben, es erstirbt dann in Regel und Langeweile.
Auch für uns fand sich dann nach manchen fehlgeschlagenen Projekten eine Wohnung in der ersten Etage des Hauses des Kaffeehändlers Melder auf der Goltsteinstraße in Marienburg, der seine große Villa in zwei Wohnungen umgebaut hatte. Die Wohnung war zwar nicht sehr praktisch, aber großräumig und freundlich im Grünen gelegen, und wir waren sehr froh, im Februar 1949 dort einziehen zu können. Bei unserm Einzug in die Wohnung ereignete sich ein Vorfall, der für die verständige Auffassung typisch ist, welche die Kölner gegenüber der gottgewollten Obrigkeit haben. Die Transportarbeiter hatten den Möbelwagen auf den Bürgersteig gefahren, um ihn bequem und ohne Störung durch den Verkehr ausladen zu können. Alsbald erschien ein Polizeibeamter, der in barscher, auf östliche Herkunft deutender Spra
che verlangte, dass der Wagen auf die Fahrbahn geschoben werden solle. Nach einigem Disput erklärte der Kölner Möbelpacker freundlich: „Herr Wachtmeister, das ist doch wohl nicht Ihr Ernst“, und begann munter mit dem Ausladen. Der Beamte notierte darauf die Personalien und verschwand mit drohenden Worten über Widerstand gegen die Staatsgewalt und Beamtenbeleidigung. Mir war die Sache nicht ganz geheuer, und ich fragte nach einigen Tagen den Spediteur, was aus der Sache geworden sei, um die beruhigende Antwort zu erhalten: „Ich habe mit dem Reviervorsteher gesprochen und die Sache auf Köllsch erledigt.“Für ordentliche Staatsbürger bedeutet das „Kölner Klüngel“, für mich „westliche Demokratie“. Das Leben in Köln war trotz der verhältnismäßig gutenWohnung nicht allzu erfreulich. Die Stadt war in einem trostlosen Zustand der Zerstörung. Wenn man am Dom entlang oder sonst durch die Altstadt ging, so hätte man weinen mögen im Gedenken daran, wie das alles früher ausgeschaut hatte.
Mit unserm Gericht hatten wir keinerlei persönlichen Zusammenhang, außer mit dem früheren Regierungspräsidenten Zachariae. Umso trostvoller war es daher, dass Lukascheks zweihundert Meter von uns entfernt wohnten und ebenso nahe Nelly Planck, die Witwe desWiderstandskämpfers Erwin Planck, der ein Sohn des Nobelpreisträgers war. Ähnlich nahe lebte der bekannte Physiker Aloys Schaefer, den Lukaschek gut kannte von Breslau her. Schaefer hatte mit über siebzig Jahren in zweiter Ehe eine um rund vierzig Jahre jüngere Dame geheiratet, wie wir glaubten, um häuslich betreut zu sein und gleichzeitig seiner Frau eine Gnadenpension zu sichern. Groß war daher das Erstaunen, als ein freudiges Ereignis in Gestalt eines dicken und gesunden Jungens eintrat. Schaefer kommentierte es in seinem trockenen Humor mit den Worten: „Alle sehen das Kind als Phänomen an, in Wirklichkeit bin ich es.“Lukascheks Köchin Emmy aber äußerte sich zu der Begebenheit wie folgt:„Nun meinte die Frau Schmitz, sie hätte anständige und ruhige Mieter gefunden, und jetzt bekommen sie plötzlich ein Kind.“Die schöne, auf gleicher Gesinnung in politischen, religiösen und geschmacklichen Fragen beruhende Gemeinschaft mit Lukascheks, Nelly Planck (nebst Kind) und Schaefers, mit denen wir täglich, meist bei Lukascheks, zusammenkamen, war der Lichtblick in dem sonst trüben Kölner Nebel, den möglichst zu erhellen wir uns auch sonstwie bemüht haben.
Dann und wann verspürten wir einen Hauch der großen Welt und kamen mit den Mächtigen dieser Erde in Berührung. Einen Augenblick lang sah es sogar so aus, als ob diese Berührung enger werden sollte. Der Rundfunk brachte nämlich Ende August die Nachricht, dass ich von der Berliner Stadtverordnetenversammlung als Vertreter für den Parlamentarischen Rat gewählt werden solle. Der Präsident des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts Herbert Ruscheweyh erklärte mir darauf am 27. August, er habe große Bedenken über die Vereinbarkeit dieses Amts mit meinem Richteramt. Außer dieser Rundfunknachricht hörte ich nichts mehr über die Sache, und als kurz darauf die Wahl vorgenommen wurde, war ich nicht bei den Mitgliedern. Ich habe nie feststellen können, was sich da hinter den Kulissen abgespielt hat. Reuter sowohl wie Suhr, die ich kurz nachher mehrfach in Bonn traf, wichen aus, und ich kann nur vermuten, dass Ruscheweyh quergeschossen hat.
Schon im Sommer 1948 in Berlin hatten wir eine Einladung zu einem vierwöchigen Besuch in London erhalten. Die Reise hatte sich infolge unseres Umzugs nach Köln und der Schwierigkeiten bei der Beschaffung der Visen verzögert. Am 15. November 1948 früh um 6 Uhr konnten wir nun endlich fahren.Wir kamen so zwar in den richtigen englischen Herbstnebel, aber auch das hatte seinen Reiz. Wir hatten für die frühe Fahrt zum Bahnhof eins der wenigen damaligen Taxis bestellt. In Ermangelung von Benzin fuhren sie mit Holzgas, das in einem aufmontierten Ofen erzeugt wurde vermittels von Holzscheiten, die im Gepäckraum und auf dem Dach mitgeführt wurden. Diese geniale Erfindung des untergehenden Dritten Reichs zeichnete sich gleichermaßen durch Gestank aus wie durch Unzuverlässigkeit. So blieb denn auch unsre Teufelskutsche auf halbem Wege plötzlich stehen. Einen Ersatz in der noch schlafenden Stadt zu finden, war aussichtslos. So mussten wir, teils fluchend, teils betend uns zur Geduld zwingen, während der Fahrer sich daranmachte, die Höllenmaschine auseinanderzunehmen und ihre Eingeweide auf dem Pflaster auszubreiten, indes der Uhrzeiger unerbittlich der Abfahrtsstunde des Zuges zueilte. Das Beten erhielt aber schließlich die Oberhand, das Ungetüm gab wieder Lebenszeichen von sich, fuhr fauchend los, und wir konnten gerade noch in den letzten Waggon des Zuges mit nachgeworfenen Koffern hineinspringen.
(Fortsetzung folgt)