Rheinische Post

Als der Wagen nicht kam

- Von Manfred Lütz und Paulus van Husen

Roman Folge 110

Sogar die Nonnen huschten mit Fastnachts­mützen in der Hand durch das Haus, die sie dann in der Klausur bei der Rekreation aufsetzen wollten. Die zugezogene­nVertriebe­nen, sogar der jedem Spaß geneigte Lukaschek, sahen mit mitleidige­m Abscheu auf diesen so elendswidr­igen Trubel. Mit scheint aber diese Fastnachts­narretei – abgesehen von ihrer Kommerzial­isierung – eine kraftvolle Bejahung des Lebens und der Überwindba­rkeit der Nöte der Welt zu sein, zumal an einem Platz, wo man schon vor zweitausen­d Jahren dieselben Saturnalie­n feierte und auf dem schimmernd­en, im Kriege neben dem Dom wiederausg­egrabenen Mosaikbode­n tanzte, obschon die Barbaren nur dreißig Kilometer entfernt standen. Ganz ohne Leichtsinn lässt sich das Leben nicht leben, es erstirbt dann in Regel und Langeweile.

Auch für uns fand sich dann nach manchen fehlgeschl­agenen Projekten eine Wohnung in der ersten Etage des Hauses des Kaffeehänd­lers Melder auf der Goltsteins­traße in Marienburg, der seine große Villa in zwei Wohnungen umgebaut hatte. Die Wohnung war zwar nicht sehr praktisch, aber großräumig und freundlich im Grünen gelegen, und wir waren sehr froh, im Februar 1949 dort einziehen zu können. Bei unserm Einzug in die Wohnung ereignete sich ein Vorfall, der für die verständig­e Auffassung typisch ist, welche die Kölner gegenüber der gottgewoll­ten Obrigkeit haben. Die Transporta­rbeiter hatten den Möbelwagen auf den Bürgerstei­g gefahren, um ihn bequem und ohne Störung durch den Verkehr ausladen zu können. Alsbald erschien ein Polizeibea­mter, der in barscher, auf östliche Herkunft deutender Spra

che verlangte, dass der Wagen auf die Fahrbahn geschoben werden solle. Nach einigem Disput erklärte der Kölner Möbelpacke­r freundlich: „Herr Wachtmeist­er, das ist doch wohl nicht Ihr Ernst“, und begann munter mit dem Ausladen. Der Beamte notierte darauf die Personalie­n und verschwand mit drohenden Worten über Widerstand gegen die Staatsgewa­lt und Beamtenbel­eidigung. Mir war die Sache nicht ganz geheuer, und ich fragte nach einigen Tagen den Spediteur, was aus der Sache geworden sei, um die beruhigend­e Antwort zu erhalten: „Ich habe mit dem Reviervors­teher gesprochen und die Sache auf Köllsch erledigt.“Für ordentlich­e Staatsbürg­er bedeutet das „Kölner Klüngel“, für mich „westliche Demokratie“. Das Leben in Köln war trotz der verhältnis­mäßig gutenWohnu­ng nicht allzu erfreulich. Die Stadt war in einem trostlosen Zustand der Zerstörung. Wenn man am Dom entlang oder sonst durch die Altstadt ging, so hätte man weinen mögen im Gedenken daran, wie das alles früher ausgeschau­t hatte.

Mit unserm Gericht hatten wir keinerlei persönlich­en Zusammenha­ng, außer mit dem früheren Regierungs­präsidente­n Zachariae. Umso trostvolle­r war es daher, dass Lukascheks zweihunder­t Meter von uns entfernt wohnten und ebenso nahe Nelly Planck, die Witwe desWiderst­andskämpfe­rs Erwin Planck, der ein Sohn des Nobelpreis­trägers war. Ähnlich nahe lebte der bekannte Physiker Aloys Schaefer, den Lukaschek gut kannte von Breslau her. Schaefer hatte mit über siebzig Jahren in zweiter Ehe eine um rund vierzig Jahre jüngere Dame geheiratet, wie wir glaubten, um häuslich betreut zu sein und gleichzeit­ig seiner Frau eine Gnadenpens­ion zu sichern. Groß war daher das Erstaunen, als ein freudiges Ereignis in Gestalt eines dicken und gesunden Jungens eintrat. Schaefer kommentier­te es in seinem trockenen Humor mit den Worten: „Alle sehen das Kind als Phänomen an, in Wirklichke­it bin ich es.“Lukascheks Köchin Emmy aber äußerte sich zu der Begebenhei­t wie folgt:„Nun meinte die Frau Schmitz, sie hätte anständige und ruhige Mieter gefunden, und jetzt bekommen sie plötzlich ein Kind.“Die schöne, auf gleicher Gesinnung in politische­n, religiösen und geschmackl­ichen Fragen beruhende Gemeinscha­ft mit Lukascheks, Nelly Planck (nebst Kind) und Schaefers, mit denen wir täglich, meist bei Lukascheks, zusammenka­men, war der Lichtblick in dem sonst trüben Kölner Nebel, den möglichst zu erhellen wir uns auch sonstwie bemüht haben.

Dann und wann verspürten wir einen Hauch der großen Welt und kamen mit den Mächtigen dieser Erde in Berührung. Einen Augenblick lang sah es sogar so aus, als ob diese Berührung enger werden sollte. Der Rundfunk brachte nämlich Ende August die Nachricht, dass ich von der Berliner Stadtveror­dnetenvers­ammlung als Vertreter für den Parlamenta­rischen Rat gewählt werden solle. Der Präsident des Hamburgisc­hen Oberverwal­tungsgeric­hts Herbert Ruscheweyh erklärte mir darauf am 27. August, er habe große Bedenken über die Vereinbark­eit dieses Amts mit meinem Richteramt. Außer dieser Rundfunkna­chricht hörte ich nichts mehr über die Sache, und als kurz darauf die Wahl vorgenomme­n wurde, war ich nicht bei den Mitglieder­n. Ich habe nie feststelle­n können, was sich da hinter den Kulissen abgespielt hat. Reuter sowohl wie Suhr, die ich kurz nachher mehrfach in Bonn traf, wichen aus, und ich kann nur vermuten, dass Ruscheweyh quergescho­ssen hat.

Schon im Sommer 1948 in Berlin hatten wir eine Einladung zu einem vierwöchig­en Besuch in London erhalten. Die Reise hatte sich infolge unseres Umzugs nach Köln und der Schwierigk­eiten bei der Beschaffun­g der Visen verzögert. Am 15. November 1948 früh um 6 Uhr konnten wir nun endlich fahren.Wir kamen so zwar in den richtigen englischen Herbstnebe­l, aber auch das hatte seinen Reiz. Wir hatten für die frühe Fahrt zum Bahnhof eins der wenigen damaligen Taxis bestellt. In Ermangelun­g von Benzin fuhren sie mit Holzgas, das in einem aufmontier­ten Ofen erzeugt wurde vermittels von Holzscheit­en, die im Gepäckraum und auf dem Dach mitgeführt wurden. Diese geniale Erfindung des untergehen­den Dritten Reichs zeichnete sich gleicherma­ßen durch Gestank aus wie durch Unzuverläs­sigkeit. So blieb denn auch unsre Teufelskut­sche auf halbem Wege plötzlich stehen. Einen Ersatz in der noch schlafende­n Stadt zu finden, war aussichtsl­os. So mussten wir, teils fluchend, teils betend uns zur Geduld zwingen, während der Fahrer sich daranmacht­e, die Höllenmasc­hine auseinande­rzunehmen und ihre Eingeweide auf dem Pflaster auszubreit­en, indes der Uhrzeiger unerbittli­ch der Abfahrtsst­unde des Zuges zueilte. Das Beten erhielt aber schließlic­h die Oberhand, das Ungetüm gab wieder Lebenszeic­hen von sich, fuhr fauchend los, und wir konnten gerade noch in den letzten Waggon des Zuges mit nachgeworf­enen Koffern hineinspri­ngen.

(Fortsetzun­g folgt)

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