Mit Flinte und Adler beim Barfuß-Fürsten
Liechtenstein wird 300 Jahre alt und feiert seinen runden Geburtstag am 15. August. Besucher des Fürstentums können es ganzjährig erkunden – am spannendsten auf versteckten Wildererpfaden und mit frei fliegenden Greifvögeln auf einzigartiger Falkner-Pirsc
Norman steigt mit seiner Frau Asul in den Sessellift. Wie immer wird das Paar angestarrt. Erschrocken, entgeistert, neugierig, auch von Wanderern beim Ausstieg an der Gipfelstation. Norman macht sie kurzerhand mit Asul bekannt:„Gestatten, meine Steinadlerin, 2,20 Meter Flügelspannweite, zehn Jahre alt, fünf davon mit mir verheiratet.“Kein Spleen eines flatterhaften Falkners, sondern seine persönliche Love Story: „Adler in Freiheit haben lebenslang nur einen Partner“, erklärt der 46-Jährige, „in Gefangenschaft ‚heiraten‘ sie mit Glück einen Menschen – wenn das Weibchen nach wochenlanger Balzzeit auf dem Lederhandschuh des Falkners landet.“Schon Asuls Mutter Tiger tat es. Mit ihr war Norman 27 Jahre zusammen.
Und darum hatte Normans langjährige Ehefrau Susanne ein Problem. Sie durfte bei Adlerwanderungen wie der heutigen nicht mit. Ebenso wie Tiger würde auch Asul Susanne mit ihren Krallen, so groß wie Bauarbeiter-Pranken, angreifen. Zickenkrieg mit garantierter Todesfolge. Grety und Erich Lang-Siegfried hingegen dürfen mit. Denn bei Einmal-Gästen werden Steinadler nicht eifersüchtig. Das Züricher Rentner-Ehepaar bekam die Adlerwanderung von seinen Kindern zum Geburtstag. Ein exklusives Geschenk, denn Norman Vögeli ist in den Alpen weit und breit der Einzige, der Greifvögel fliegen lässt, fast wie Familienväter ihren Drachen.
Hier in gut 2000 Meter Höhe, oberhalb von Malbun, Liechtensteins höchstem Dorf, kein Problem. Zwischen den Gipfeln von Gamsgrat, Spitz und Gorfion erschreckt Asul abseits der serpentinenartigen Wanderwege bloß ein paar Murmeltiere. Ein schriller Piep von ihnen heißt: Gefahr aus der Luft, erklärt Norman. Zweimal dieser Laut bedeutet: Gefahr am Boden. So wie heute, denn Asul landet ruckzuck im grasgrünen Steilhang, kann dort vor Kraft kaum gehen.„Kein Aufwind da, ohne den sind Adler als Thermikflieger hilflos, sie können ihr Gewicht von etwa zehn Kilo nicht allein durch Flügelschläge hoch bringen“, sagt Falkner Vögeli.
Während er erklärt, dass Adler aus 2000 Meter Höhe eine Zigarettenschachtel erkennen können – daher die sprichwörtlichen Adleraugen – schwingt Asul mit eleganten Flügelschlägen aus dem Talkessel heraus, spürt endlich Aufwind und schraubt sich in die Höhe. Ein Pfiff des Falkners, der seinen mit einem dicken Lederhandschuh bewehrten linken Arm hebt. Das ist für die Adlerfrau das Zeichen: Komm in meinen Arm. Halb ängstlich, halb fasziniert beobachten Grety und Erich wie Asul über ihre leicht eingezogenen Köpfe hinweg zu Norman rauscht. Nun darf jeder Teilnehmer der Wanderung den neun Kilo schweren Greif selbst auf dem Schutzhandschuh tragen. Ganz schön spitz, die neun Zentimeter langen Krallen, die mit 400 Kilo ihre Beute zu Tode drücken können...
In freierWildbahn wäre Asuls Revier so groß wie ganz Liechtenstein, sagt Norman – 24 Kilometer lang und gut zwölf breit also. Auf der Landkarte ist das Fürstentum so eine Art Tropfen zwischen der Schweiz und Österreich, scheinbar ausgelaufen aus dem Bodensee und halb so groß wie München. 36.000 Einwohner, keine Soldaten, 60 Polizisten und ein Fürst, der oberhalb seines Schlosses schon mal barfuß im Wald joggt. Ach ja, und mehr als 40.000 Stiftungen, Banken und Treuhandgesellschaften gibt’s hier, hinter deren zumeist goldfarben blinkenden Türschildern honorige Herren wie Zumwinkel und Kanther, Schockemöhle und Strauß reichlich Geld steuerfrei versteckten. Vorbei, alles vorbei, beeilt man sich allerorten zu versichern, Liechtenstein sei spätestens seit der Finanzkrise sauber.
Und zack, schlagen die Einheimischen schnell einen Haken zu ihren bäuerlichen Vorfahren, die noch vor gut 100 Jahren so bettelarm waren, dass sie ihren Familien den gelegentlichen Sonntagsbraten nur durch Wilderei bescheren könnten. Leander Schädlers Ahnenreihe ist voll von solchen Erlebnissen. Darum macht der 61-jährige, ehemalige Landtagsabgeordnete daraus kurzerhand eine Wanderung.
Den grünen Filzhut hat er tief ins Gesicht gezogen, das er sich selbst mit Dreck verschmiert hat. Das Gewehr vom Wilderer-Urgroßvater hat er dabei im Anschlag und pirscht sich mit seinen Gästen den steilen Pfad hinter der Alpe Bargälla hoch. Wilderer, so lernen sie, waren bei ihren Raubzügen immer quasi auf Stereo-Wachsamkeit gepolt. Einerseits die Beute im Blick behalten, etwa durch fingerfertige Prüfung von Kot-Ködeln. Alle mal bitte beherzt zugreifen! Grün und weich bedeutet: Hirsch mit Glück noch hinterm nächsten Hügel, erklärt Schädler. Dunkle und harte, also schon ältere Losung hingegen heißt: Hirsch über alle Berge.
Auf ihrem zweiten Sinneskanal mussten Wilderer die Jagdaufseher im Auge haben. Sobald dieseWald-Kripo aus dem Dorf loszog, hängten die Wilderer-Frauen weithin sichtbare Bettlaken auf die Leine hinterm Haus – als Warnung, erzählt Schädler. Trotzdem: So manches tragischeWildererschicksal konnten diese Schlafzimmer-Spitzel nicht verhindern. „Hier wurde am 14. Oktober 1874 der Wildschütz Xaver Beck im Alter von 24 Jahren erschossen“, steht auf einem Gedenkstein. „Vom Jagdaufseher“, ergänzt Leander Schädler. Er hat die Gerichtsakte dieses Falles studiert. Nicht nur, um seinen Gästen die Geschichte genau zu erzählen, sondern auch, weil Xaver in den Armen von Schädlers Familien-Vorfahr starb. Ferdi hieß der – heute ein Held mit Stammplatz im Landesmuseum. So einer wusste natürlich auch, wie man Beute bei Bedarf am Wegesrand fix verschwinden lässt: Beschwert mit einem Felsbrocken, plumps – ganz unten im eiskalten Gebirgsbach. Tiefkühlkost mit Blubb also, in seiner wahrscheinlich frühesten Form.