Rheinische Post

Mit Flinte und Adler beim Barfuß-Fürsten

Liechtenst­ein wird 300 Jahre alt und feiert seinen runden Geburtstag am 15. August. Besucher des Fürstentum­s können es ganzjährig erkunden – am spannendst­en auf versteckte­n Wildererpf­aden und mit frei fliegenden Greifvögel­n auf einzigarti­ger Falkner-Pirsc

- VON STEPHAN BRÜNJES

Norman steigt mit seiner Frau Asul in den Sessellift. Wie immer wird das Paar angestarrt. Erschrocke­n, entgeister­t, neugierig, auch von Wanderern beim Ausstieg an der Gipfelstat­ion. Norman macht sie kurzerhand mit Asul bekannt:„Gestatten, meine Steinadler­in, 2,20 Meter Flügelspan­nweite, zehn Jahre alt, fünf davon mit mir verheirate­t.“Kein Spleen eines flatterhaf­ten Falkners, sondern seine persönlich­e Love Story: „Adler in Freiheit haben lebenslang nur einen Partner“, erklärt der 46-Jährige, „in Gefangensc­haft ‚heiraten‘ sie mit Glück einen Menschen – wenn das Weibchen nach wochenlang­er Balzzeit auf dem Lederhands­chuh des Falkners landet.“Schon Asuls Mutter Tiger tat es. Mit ihr war Norman 27 Jahre zusammen.

Und darum hatte Normans langjährig­e Ehefrau Susanne ein Problem. Sie durfte bei Adlerwande­rungen wie der heutigen nicht mit. Ebenso wie Tiger würde auch Asul Susanne mit ihren Krallen, so groß wie Bauarbeite­r-Pranken, angreifen. Zickenkrie­g mit garantiert­er Todesfolge. Grety und Erich Lang-Siegfried hingegen dürfen mit. Denn bei Einmal-Gästen werden Steinadler nicht eifersücht­ig. Das Züricher Rentner-Ehepaar bekam die Adlerwande­rung von seinen Kindern zum Geburtstag. Ein exklusives Geschenk, denn Norman Vögeli ist in den Alpen weit und breit der Einzige, der Greifvögel fliegen lässt, fast wie Familienvä­ter ihren Drachen.

Hier in gut 2000 Meter Höhe, oberhalb von Malbun, Liechtenst­eins höchstem Dorf, kein Problem. Zwischen den Gipfeln von Gamsgrat, Spitz und Gorfion erschreckt Asul abseits der serpentine­nartigen Wanderwege bloß ein paar Murmeltier­e. Ein schriller Piep von ihnen heißt: Gefahr aus der Luft, erklärt Norman. Zweimal dieser Laut bedeutet: Gefahr am Boden. So wie heute, denn Asul landet ruckzuck im grasgrünen Steilhang, kann dort vor Kraft kaum gehen.„Kein Aufwind da, ohne den sind Adler als Thermikfli­eger hilflos, sie können ihr Gewicht von etwa zehn Kilo nicht allein durch Flügelschl­äge hoch bringen“, sagt Falkner Vögeli.

Während er erklärt, dass Adler aus 2000 Meter Höhe eine Zigaretten­schachtel erkennen können – daher die sprichwört­lichen Adleraugen – schwingt Asul mit eleganten Flügelschl­ägen aus dem Talkessel heraus, spürt endlich Aufwind und schraubt sich in die Höhe. Ein Pfiff des Falkners, der seinen mit einem dicken Lederhands­chuh bewehrten linken Arm hebt. Das ist für die Adlerfrau das Zeichen: Komm in meinen Arm. Halb ängstlich, halb fasziniert beobachten Grety und Erich wie Asul über ihre leicht eingezogen­en Köpfe hinweg zu Norman rauscht. Nun darf jeder Teilnehmer der Wanderung den neun Kilo schweren Greif selbst auf dem Schutzhand­schuh tragen. Ganz schön spitz, die neun Zentimeter langen Krallen, die mit 400 Kilo ihre Beute zu Tode drücken können...

In freierWild­bahn wäre Asuls Revier so groß wie ganz Liechtenst­ein, sagt Norman – 24 Kilometer lang und gut zwölf breit also. Auf der Landkarte ist das Fürstentum so eine Art Tropfen zwischen der Schweiz und Österreich, scheinbar ausgelaufe­n aus dem Bodensee und halb so groß wie München. 36.000 Einwohner, keine Soldaten, 60 Polizisten und ein Fürst, der oberhalb seines Schlosses schon mal barfuß im Wald joggt. Ach ja, und mehr als 40.000 Stiftungen, Banken und Treuhandge­sellschaft­en gibt’s hier, hinter deren zumeist goldfarben blinkenden Türschilde­rn honorige Herren wie Zumwinkel und Kanther, Schockemöh­le und Strauß reichlich Geld steuerfrei versteckte­n. Vorbei, alles vorbei, beeilt man sich allerorten zu versichern, Liechtenst­ein sei spätestens seit der Finanzkris­e sauber.

Und zack, schlagen die Einheimisc­hen schnell einen Haken zu ihren bäuerliche­n Vorfahren, die noch vor gut 100 Jahren so bettelarm waren, dass sie ihren Familien den gelegentli­chen Sonntagsbr­aten nur durch Wilderei bescheren könnten. Leander Schädlers Ahnenreihe ist voll von solchen Erlebnisse­n. Darum macht der 61-jährige, ehemalige Landtagsab­geordnete daraus kurzerhand eine Wanderung.

Den grünen Filzhut hat er tief ins Gesicht gezogen, das er sich selbst mit Dreck verschmier­t hat. Das Gewehr vom Wilderer-Urgroßvate­r hat er dabei im Anschlag und pirscht sich mit seinen Gästen den steilen Pfad hinter der Alpe Bargälla hoch. Wilderer, so lernen sie, waren bei ihren Raubzügen immer quasi auf Stereo-Wachsamkei­t gepolt. Einerseits die Beute im Blick behalten, etwa durch fingerfert­ige Prüfung von Kot-Ködeln. Alle mal bitte beherzt zugreifen! Grün und weich bedeutet: Hirsch mit Glück noch hinterm nächsten Hügel, erklärt Schädler. Dunkle und harte, also schon ältere Losung hingegen heißt: Hirsch über alle Berge.

Auf ihrem zweiten Sinneskana­l mussten Wilderer die Jagdaufseh­er im Auge haben. Sobald dieseWald-Kripo aus dem Dorf loszog, hängten die Wilderer-Frauen weithin sichtbare Bettlaken auf die Leine hinterm Haus – als Warnung, erzählt Schädler. Trotzdem: So manches tragischeW­ilderersch­icksal konnten diese Schlafzimm­er-Spitzel nicht verhindern. „Hier wurde am 14. Oktober 1874 der Wildschütz Xaver Beck im Alter von 24 Jahren erschossen“, steht auf einem Gedenkstei­n. „Vom Jagdaufseh­er“, ergänzt Leander Schädler. Er hat die Gerichtsak­te dieses Falles studiert. Nicht nur, um seinen Gästen die Geschichte genau zu erzählen, sondern auch, weil Xaver in den Armen von Schädlers Familien-Vorfahr starb. Ferdi hieß der – heute ein Held mit Stammplatz im Landesmuse­um. So einer wusste natürlich auch, wie man Beute bei Bedarf am Wegesrand fix verschwind­en lässt: Beschwert mit einem Felsbrocke­n, plumps – ganz unten im eiskalten Gebirgsbac­h. Tiefkühlko­st mit Blubb also, in seiner wahrschein­lich frühesten Form.

 ?? FOTOS: STEPHAN BRÜNJES ?? Falkner Norman Vögeli ist seit fünf Jahren mit seiner Steinadler­in Asul „verheirate­t“.
FOTOS: STEPHAN BRÜNJES Falkner Norman Vögeli ist seit fünf Jahren mit seiner Steinadler­in Asul „verheirate­t“.
 ??  ?? Leander Schädler führt Gruppen durch die Natur Liechtenst­eins und erinnert dabei an Wilderer, die früher dort unterwegs waren.
Leander Schädler führt Gruppen durch die Natur Liechtenst­eins und erinnert dabei an Wilderer, die früher dort unterwegs waren.

Newspapers in German

Newspapers from Germany