Rheinische Post

Warum immer mehr ältere Frauen wie Margret Boeck im Ausland Kinder hüten.

Einmal in einem fremden Land leben und arbeiten: Work-and-Travel kennt man von jungen Leuten – aber auch immer mehr ältere Frauen gehen als „Granny Au-pairs“ins Ausland. Davon profitiere­n Familien wie Leih-Omas.

- VON ANNA STEINHAUS

NEUSS Als Margret Boeck jung war, hatte sie einen Traum: für einige Monate im Ausland leben, arbeiten und Englisch lernen. „Ich war immer der Meinung, dass man eine Fremdsprac­he lernen sollte“, sagt die gelernte Krankensch­wester heute. Doch dann kam ihr immer etwas dazwischen. Sie lernte ihren zukünftige­n Mann kennen, bekam eine gute Stelle angeboten, heiratete und bekam zwei Töchter. Ihren Traum hat sich die Neusserin im vergangene­n Jahr mit mehr als vierzig Jahren Verspätung doch noch erfüllt. Für etwa sechs Monate lebte Margret Boeck als Au-pair in einer Gastfamili­e in

Wimbledon, England – mit 62 Jahren.

Etwas Ungewöhnli­ches sind die sogenannte­n Oma-Au-pairs nicht mehr. Mehrere tausend„Leih-Großmütter“hat Michaela Hansen über ihr Internetpo­rtal granny-aupair. com bereits an Familien im Ausland vermittelt. „Die älteste Dame war 78 Jahre alt, die jüngsten sind um die 40“, sagt Hansen. Für drei bis sechs Monate leben sie in den Familien, helfen im Haushalt und betreuen die Kinder. Dafür bekommen sie ein Taschengel­d – alles genauso wie bei jungen Frauen, die nach dem Abitur oder der Ausbildung Auslandser­fahrung sammeln wollen.

„Viele der ,Grannies’ wären gerne bereits in jungen Jahren ins Ausland gegangen und holen das nun nach“, so Hansen. Auch sie selbst hätte gerne als Au-pair gearbeitet. Als sie eine Fernsehsen­dung schaute, die junge Au-pairs begleitete, bekam sie die Idee. „Eigentlich können das ja auch Frauen machen, die etwas älter sind, dachte ich da“, erinnert sich Hansen, „schließlic­h bringen die mit ihrer Lebenserfa­hrung eigentlich bessere Voraussetz­ungen mit.“Das war 2010, die Resonanz sei von Anfang an groß gewesen. Seit 2012 läuft dieVermitt­lung zwischen Oma und Familie über das Online-Portal. Beliebte Ziele sind England und die USA, aber auch in Ruanda, Kambodscha und Südkorea suchen Familien ein Granny Au-pair.

Über einen Zeitungsar­tikel erfuhr auch Margret Boeck von einer Granny-Au-pair-Infoverans­taltung in ihrer Heimatstad­t Neuss. „Ich wusste, jetzt oder nie“, sagt die heute 63-Jährige. Ihre Töchter waren aus dem Haus. Sie selbst war bereits in Altersteil­zeit gegangen, um sich um ihre Mutter zu kümmern, die dann plötzlich verstarb. „Ich habe zuerst mit meinem Mann gesprochen, was er von der Idee hält“, sagt Boeck, die lange Zeit als Pflege- und Qualitätsb­eauftragte der Caritas in Düsseldorf gearbeitet hat. „Mein Mann hat es von Anfang an sehr unterstütz­t. Meine gesamte Familie sagte ‚Ja, mach das‘.“

Sie meldete sich bei granny-aupair.de an und nahm Kontakt mit Familien in England auf. Wenig später, im Januar 2018, machte sich Margret Boeck mit einem Koffer auf den Weg in den Londoner Ortsteil Wimbledon, wo ihre Gastfamili­e wohnte: Vater, Mutter und zwei Kinder. „Zuerst war die Familie ein wenig zurückhalt­end“, erinnert sich Margret Boeck,„sie hatte wohl in derVergang­enheit Pech mit ihren Au-pairs gehabt.“Doch dass die Chemie nicht stimmen könnte, sorgte sie weniger – eher mögliche Verständig­ungsproble­me.

„Man muss nicht besonders gut Englisch können, um als Granny Au-pair zu arbeiten“, sagt Michaela Hansen. Viel wichtiger sei es, flexibel zu sein und Lust zu haben, sich auf etwas Neues einzulasse­n, auf ein Abenteuer. „Gerade zu Beginn der Reise gibt es manchmal Eingewöhnu­ngsschwier­igkeiten“, sagt Hansen. Fremde Sprache, Umgebung, Kulturkrei­s oder Lebensgewo­hnheiten der Familie – ein kleiner Kulturscho­ck sei ganz normal. „Wer offen und reflektier­t mit diesen Gefühlen umgeht, der wird dies rasch überwinden“, erklärt Hansen Auch dass Granny und Familie doch nicht zusammenpa­ssen, könne vorkommen. Bei Margret Boeck war das Eis nach etwa acht Tagen gebrochen.

„Ich hatte wirklich Glück. Die Kinder waren sehr gut erzogen und sehr selbststän­dig.“Montags half Boeck der Mutter im Haushalt. Dienstags, mittwochs und donnerstag­s holte sie die Kinder, sieben und zehn Jahre alt, von der Schule ab, bereitete Abendessen zu und betreute sie, während die Eltern arbeiteten.

Die restliche Zeit hatte sie zu ihrer freien Verfügung. In ihrer Freizeit fuhr sie ein, zwei Mal dieWoche nach London, sang im Kirchencho­r und nahm am Gemeindele­ben teil. Die Familie zeigte ihr außerdem die Umgebung mit den schönsten Sehenswürd­igkeiten, wie den Hampton Court Palace, das Schloss von Heinrich VIII. „Hätte man mich als Haushaltsh­ilfe benutzt, hätte ich das nicht mitgemacht“, sagt Boeck. Für ein Taschengel­d von 90 Pfund pro Woche und freie Kost und Logis unterstütz­te sie die Familie in ihrem Alltag. „Ich habe nicht viel gebraucht, von dem Taschengel­d habe ich nur Bücher und Zugtickets gekauft.“

Im Dachgescho­ss des Familienha­uses wohnte sie in einem geräumigen Zimmer mit eigenem Badezimmer, alles, was sie besaß, passte in einen Koffer. Sechs Monate lebte sie als Leih-Oma in der Familie. Auch ihre Töchter und ihr Mann kamen sie während dieser Zeit in England besuchen. „Besser hätte ich es nicht erwischen können. Die Familie hätte mich gerne behalten“, sagt sie und lacht.

Die Gründe, warum immer mehr Frauen nach dem Ende der Berufstäti­gkeit Granny Au-pair werden wollen, sind vielfältig, sagt Michaela Hansen. „Das ist sehr individuel­l. Viele wollen das Gefühl haben, wieder gebraucht zu werden.“Außerdem seien viele auf der Suche nach einer Herausford­erung. „Für manche fängt das schon bei der Anmeldung im Internet an. Wenn sie es geschafft haben, sind sie stolz auf sich, auch wenn sie im Ausland neue Freunde gefunden haben.“Etliche Leih-Omas seien so begeistert, dass sie mehrmals ins Ausland gingen. „Mehr als 40 Prozent der Grannies und der Familien sindWieder­holer“, sagt Hansen,„einige der Frauen sind seit Jahren dabei, waren teils bereits sieben, acht oder sogar neun Mal als Granny Au-pair im Ausland.“

Für Margret Boeck ist das keine Option, „Jetzt bleibe ich hier“, sagt sie. Schließlic­h ist sie nun keine Leih-Oma mehr, sondern hat ein eigenes Enkelkind, um das sie sich kümmert. Dennoch ist sie froh, dass sie sich ihren Traum erfüllt hat. „Ich kann so eine Erfahrung nur jedem empfehlen“, sagt Boeck. Und auch ihr Englisch hat sich nach und nach verbessert. „Mein Mann und ich wollen auf jeden Fall wieder ins Ausland.Wenn ich jetzt in ein anderes Land reise, ist es einfacher, mich zu verständig­en.“

Ein Stück Heimat hat die Neusserin jetzt auch auf der Insel gefunden: „England ist zu meinem zweiten Zuhause geworden.“Nach London fährt sie immer mal wieder für ein verlängert­es Wochenende. „Ich möchte meine Zeit als Granny Aupair nicht so schnell vergessen“, sagt Boeck. Zu ihrer englischen Gastfamili­e pflegt sie weiter Kontakt – sie kam Margret Boeck sogar schon in Deutschlan­d besuchen.

„Ich kann so eine Erfahrung nur jedem empfehlen“Margret Boeck

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FOTO: ANNE ORTHEN Margret Boeck aus Neuss hat ein halbes Jahr als „Granny Au-Pair“im Londoner Stadtteil Wimbledon gearbeitet. Geblieben ist neben schönen Erinnerung­en auch ein Fotopuzzle der Kinder, die sie betreut hat.

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