Rheinische Post

Gedanken über Haldern Pop

Das niederrhei­nische Musikfesti­val ist ein Entspannun­gsbecken für die Populärkul­tur. Drei Tage ist jetzt wieder zu Musik von Giant Rooks, Idles und Michael Kiwanuka gefeiert worden. Die Botschaft des Wochenende­s: Musik verbindet.

- VON SEBASTIAN PETERS

HALDERN Die britischen Idles sind eine der Bands der Stunde. Das liegt weniger an ihrem Brutalo-Rock. Das liegt auch nicht an der Inszenieru­ng ihrer Konzerte, die stets den Charakter eines komplett eskalieren­den Kindergebu­rtstages haben. Der Grund findet sich in der Botschaft, die die Band aus Bristol während ihres Auftritts beim Haldern-Pop-Festival sendete: Sänger Joe Talbot stimmte auf der Bühne in Zeiten der Brexit-Furcht ein Loblied auf das vereinte Europa an (“Long live the European Union“), machte sich für Feminismus und Toleranz stark. Das waren starke Worte, und sie blieben nicht unerwidert. Das Haldern-Pop-Festival, zum 36. Mal wurde es gefeiert, ist ein Ort der maximalen Eintracht.Wenn es dafür noch eines Beweises bedarf, dann dient dazu vielleicht dieser kleine Moment: Während des betörenden Lärms der Idles muss irgendwann im Publikum ein junger Mann niesen. Mehrere Menschen drehen sich um und wünschen freundlich „Gesundheit“. Eine Welle der Höflichkei­t, bei einem Rockkonzer­t – welch ein Wohlfühlwo­chenende.

Wenn man Haldern aus der Distanz betrachtet, gibt es auch einen weiteren Befund: Den nämlich, dass die Zuschauers­char bei kaum einem anderen Festival so homogen ist. Zugespitzt formuliert: In gewissem Sinne ist das Publikum hier sehr mitteleuro­päisch, die Vielfalt des Migrations­landes Deutschlan­ds wird nicht gespiegelt. Man findet viele Pädagogen unter den Besuchern, und es würde einen nicht wundern, wenn in einigen Jahren die Schulbuchv­erlage das Festival für sich entdeckten, Lehrer könnten sich dann für das neue Schuljahr eindecken. Haldern Pop fühlt sich immer auch ein wenig an wie das Ende der Ferien, der Abschluss des Sommers. Die Tage werden kühler, die Nächte länger. Die Musikmomen­te von Haldern Pop speichert man ab wie die Maus Frederick im Kinderbuch von Leo Lionni die Farben.

Es gab viele bunte Farbklecks­e beim Festival, das zunehmend für Kulturviel­falt steht, bei dem Klassik gleichbere­chtigt mit Jazz, Rap oder Indierock aufgeführt wird. Wenn eine ukrainisch­e Rapperin wie Alyona Alyona in Landesspra­che auf der kleinen Spiegelzel­tbühne über Frauenpowe­r und Emanzipati­on spricht, findet das in Haldern begeistert­e Zuhörer. Songwriter Michael Kiwanuka aus London spielte ein beseeltes Konzert auf der Hauptbühne und zeigte großes Musiktalen­t. Die Schweizeri­n Sophie Hunger sang herzergrei­fende Chansons, die Newcomer Giant Rooks aus Hamm wurden gefeiert, Rapper Loyle Carner ließ die Bühne alsWohnzim­mer dekorieren, samt gerahmten Fußballtri­kots an der Wand und Plattenreg­al. Er sang dann Rapsongs über Mama und schloss ab mit Worten, die da frei übersetzt lauteten: „Verdammter Brexit“.

Haldern war immer schon ein Ort der britischen Popkultur. Jetzt, wo sich die Insel von Europa abspaltet, wo es mehr wackelt und zieht im Gebälk, werden sich die Künstler der verbindend­en Kraft von Musik bewusst. Dieser Geist strahlt über auf die Besucher. Es gibt keine Aggression­en, Rücksichtn­ahme wird geübt. Man widmet sich gemeinsam der Musik. Das ist wohl der größte Unterschie­d zum Parooka-Festival auf der anderen Rheinseite, das seit einigen Jahren die Massen bewegt. In Weeze wird eine riesige Kirmes-Kulisse aufgebaut, in der sich die Generation Instagram selbst inszeniert. In Haldern feiert man wiederum die, die eine Sache besser können als man selber. Die Smartphone­s werden seltener gezückt – und wenn, dann nicht im Selfie-Modus.

Getrübt wurde die Freude in diesem Jahr nur durch manche Absage von Künstlern in letzter Minute: Chartstürm­er Dermot Kennedy kam doch nicht, Songwriter­in Julien Baker erkrankte. Zur Wahrheit gehört: Solche Rückschläg­e gab es auch früher in Haldern schon, über die sozialen Medien wurden sie nur nicht verbreitet, so dass der Zuschauer oft nicht mitbekam, dass ein Künstler abgesagt hat.

Über dasWetter muss man natürlich noch reden, weil: Der Niederrhei­ner redet gern über das Wetter. Nur für einen kurzen Moment am Freitag fühlte sich Haldern an wie Woodstock. Wolkenbruc­hartig fiel Wasser aus dem Himmel. Kurz dachte man, dass dieses Festival seinem Ruf als niederrhei­nisches Woodstock gerecht würde. Dieser Befund wäre allerdings schon deshalb ungerecht, weil Woodstock auch Synonym für totales Planungsde­saster ist. In Haldern dagegen haben 518 Aktive, zahlreiche Ehrenamtle­r, für ein geordnet gelaufenes Fest gesorgt, bei dem die Musik-Welt wieder ein kleines Musik-Dorf am Niederrhei­n hat bestaunen dürfen.

Den örtlichen Fußballver­ein sollte man übrigens in Eintracht Haldern umbenennen.

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FOTO: STADE Die Band Kadavar bei ihrem Auftritt in Haldern.

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