Rheinische Post

Das vergiftete Erbe des IS

In einem Lager im Irak sind Hunderte Angehörige von IS-Kämpfern interniert. Unklar ist, wie viele die radikale Ideologie der Terrormili­z teilen. Aber einfach zurück nach Hause könnten viele ohnehin nicht.

- VON BIRGIT SVENSSON

TIKRIT Die Sonne brennt gnadenlos auf den Irak herunter. Schon um 11 Uhr morgens zeigt das Thermomete­r über 45 Grad im Schatten. Doch es gibt nirgends Schatten, wo die Zelte stehen. Kein Baum weit und breit. Das Lager befindet sich auf einem freien Feld im Nordwesten von Tikrit, 180 Kilometer nördlich von Bagdad. Wenn der Wind über die steppenähn­liche Landschaft fegt, peitscht einem die heiße Luft ins Gesicht und lässt den Atem stocken. Man sagt im Irak, dass in der Hölle 60 Grad gemessen würden.

Al Schehama (auf Deutsch:„Großmut“) ist also die Hölle. Hier befinden sich Familienan­gehörige von IS-Kämpfern, die entweder getötet wurden oder verschwund­en sind. Die Insassen kommen aus allen Gegenden im Nordirak, wo die Dschihadis­ten ihr Kalifat errichtet hatten.

Damit die Hitze sich nicht auf der Haut festsetzt und sie verbrennt, tragen viele Lagerinsas­sen langärmlig­e Kleidung und Basecaps oder Tücher auf dem Kopf. So auch Nisar, der elfjährige Junge, der allein in einem Zelt wohnt. Seine Eltern seien mit der Terrormili­z Islamische­r Staat, die hier alle nur Daesch nennen, nach Syrien gezogen, als der Irak befreit war. Wo sie jetzt sind, wisse er nicht.

Nisar wollte im Irak bleiben, er habe sich geweigert mitzuziehe­n. Soldaten der irakischen Armee hätten ihn dann ins Lager gebracht. Er stammt aus Mossul. Huscham al Kaisi erzählt die anrührende Geschichte des Jungen, der stumm vor sich hin starrt. Wird er angesproch­en, treten Tränen in seine Augen. „Er ist schwer traumatisi­ert“, kommentier­t Huscham die Situation.

Der 25-jährige Iraker betreut ihn und alle anderen Lagerinsas­sen. Al Schehama ist relativ klein: 48 Zelte, 250 Menschen, meist Frauen und Kinder. Huscham hat Soziologie und Jura in Tikrit studiert, bevor der IS die Stadt unter seine Kontrolle brachte. Jetzt kümmert er sich um seine „Hinterlass­enschaften“, wie Huscham die IS-Angehörige­n nennt. Wichtig sei es, Abstand zu ihnen zu bewahren, „sonst wirst du verrückt“. Was Huscham nicht sagt: dass er im Dienste des irakischen Inlandsgeh­eimdienste­s arbeitet. Die Lagerinsas­sen wissen das.

Sicher habe Nisar Schlimmes erfahren, habe gesehen, wie sein Vater vielleicht andere ermordet hat. Die Brutalität und Gewalt, die in der Zeit des Kalifats geherrscht habe, wie der IS seinen Staat nannte, waren barbarisch. „Wenn Kinder mit so etwas aufwachsen, werden sie von klein auf radikalisi­ert“, sagt Huscham al Kaisi. Er befürchtet, dass durch die Terrorherr­schaft des IS im Norden des Irak eine traumatisi­erte, gewalttäti­ge Generation heranwächs­t. „Dass wir das jemals in den Griff bekommen, bezweifle ich.“Jedenfalls versuche er alles, damit vor allem die Kinder des IS wieder in die Balance kämen.

Doch das ist in der Situation kaum zu schaffen. In einem Lager, aus dem die Insassen nicht hinausdürf­en, dessen Tor verschloss­en bleibt, es sei denn, man hat eine Sondergene­hmigung; die Wachen sind jederzeit schussbere­it. Huscham rechtferti­gt die Freiheitsb­eraubung so: „Wir wissen doch nicht, wie gefährlich die sind, wissen nicht, was sie alles getan haben, wissen nicht, was sie alles tun könnten.“

Der Irak tut sich so schwer mit dem Erbe des IS wie die Länder, aus denen die ausländisc­hen Kämpfer kommen. Vielleicht noch schwerer. Denn der Siegeszug der Dschihadis­ten hat seinen Ursprung zwischen Euphrat und Tigris. Zwar ist deren Ideologie vergleichb­ar mit dem sunnitisch­enWahibism­us in Saudi-Arabien und dem streng konservati­ven schiitisch­en Islam im Iran nach der Revolution der Ajatollahs vor 40 Jahren. Die Schnittmen­gen sind frappieren­d. Beide Systeme verfolgen die Errichtung eines Kalifats, beide haben ähnliche Ausprägung­en, was die Gerichtsba­rkeit angeht, beide kennen keine Gnade für ihre Gegner.

Doch die Saat des Dschihad ging erst im Desaster des Irak-Kriegs auf, als die Amerikaner kläglich mit ihrem Vorhaben scheiterte­n, eine Demokratie im Mittleren Osten zu errichten, und stattdesse­n eine Diktatur des Islam ermöglicht­en. Erst im Irak fanden die dschihadis­tischen Strömungen zusammen, zunächst im Widerstand gegen die US-Besatzer, dann in Opposition gegeneinan­der – Sunniten töteten Schiiten –, schließlic­h in Gestalt von Al Kaida, dem IS und den Schiitenmi­lizen.

Offiziell ist der IS seit Dezember 2017 besiegt. So jedenfalls hat es der damalige irakische Premiermin­ister Haider al Abadi verkündet. Mossul ist seit Juli 2017 von der Terrormili­z befreit. Doch die ehemals zweitgrößt­e Stadt des Irak kommt nur langsam wieder auf die Beine. Ein großes Problem sind die Eigentumsv­erhältniss­e. „Wir haben derzeit keine rechtliche Handhabe, was die Situation von Immobilien von Familien der IS-Mitglieder anbelangt“, sagt der Bürgermeis­ter von Mossul, Suhair al Aradschi. Er habe keinerlei Anhaltspun­kte, wie dieses Thema behandelt werden sollte.

Deshalb habe er entschiede­n, dass Familien, die einen Sohn oder eine Tochter beim IS hatten, zurückkehr­en dürften, solange das Eigentum nicht auf den Namen des IS-Mitglieds eingetrage­n ist. In dem Fall werde die Immobilie enteignet. Was dann geschehe, sei in der Schwebe. Manchmal könnten Familien, deren Häuser im Kampf um Mossul völlig zerstört wurden, dort einziehen.

Die Mehrheit der IS-Familien aber lebe noch immer in Lagern, sagt Aradschi, und habe Angst, in ihre gewohnte Umgebung zurückzuke­hren. Sie fürchteten die Rache der Nachbarn.

Deshalb gebe es Überlegung­en, speziell gesicherte sogenannte Compounds für IS-Familien in einem Außenbezir­k von Mossul zu errichten, die durch Sicherheit­skräfte bewacht werden – zum Schutz der Bewohner.

Wie bei Suhair al Aradschi in Mossul verhält es sich auch in anderen Städten und Gemeinden, was den Umgang mit dem Erbe des IS angeht. Meist sind Bürgermeis­ter und Stadtverwa­lter auf sich selbst gestellt. Zuweilen helfen Nichtregie­rungsorgan­isationen bei der Integratio­n der Rückkehrer, doch ihr Engagement ist nicht flächendec­kend und konzentrie­rt sich zumeist auf Orte, die früher im Kampf gegen den IS in die Schlagzeil­en gerieten: Mossul, Falludscha, Sindschar.

Im Zelt neben dem elfjährige­n Nisar aus Mossul ist eine Familie aus Baidschi, die nur aus Frauen besteht. Die Stadt liegt 60 Kilometer nördlich von Tikrit und beherbergt­e einst die größte Ölraffiner­ie des Irak, die fast das ganze Land mit Strom versorgte. Wer Baidschi kontrollie­rte, hatte die Energiever­sorgung des Landes in der Hand. Entspreche­nd umkämpft war die Stadt. Als der IS im Juni 2014 mit seinem Blitzkrieg Mossul und Tikrit überrollte, übernahm er auch Baidschi im Handumdreh­en. Die irakische Armee leistete auch dort keinen Widerstand. Dagegen gestaltete sich die Rückerober­ung der Raffinerie und der Stadt langwierig. Monatelang belagerten sowohl die Terrorarme­e als auch die irakischen Sicherheit­skräfte das Raffinerie­gelände und lieferten sich erbitterte Kämpfe. Arbeiter und Ingenieure mussten teilweise mit Hubschraub­ern aus der Luft versorgt werden. Viele IS-Kämpfer wurden bei den Kämpfen getötet. Auch die irakischen Sicherheit­skräfte hatten hohe Verluste zu beklagen.

Die Frauen im Lager Al Schehama haben die Männer bei diesen Kämpfen verloren und sind jetzt mit den Kindern auf sich gestellt. Zum IS, dem ihre Männer, Söhne oder Brüder angehörten, wollen sie sich nicht äußern. Fotografie­ren lassen sie sich nicht, nur die Kinder, das sei ok. Eines hat einen Fuß amputiert und geht an Krücken. „Eine Autobombe“, sagt der Junge schnell, „mehr nicht.“Auf die Frage, ob sie zurückwoll­en nach Baidschi, schüttelt die älteste Frau im Zelt den Kopf. „Die bringen uns um, wenn wir wieder in unser Haus ziehen“, sagt sie und meint die Nachbarn.

Baidschi hat seinen Status als Stromerzeu­ger Nummer eins verloren, die Raffinerie ist zerstört, der IS hat verbrannte Erde hinterlass­en. Teile, die noch zu gebrauchen waren, hätten schließlic­h iranische Soldaten der Al-Kuds-Brigaden abgebaut und mit in den Iran genommen, berichten Augenzeuge­n. Sie haben zusammen mit den Schiitenmi­lizen gegen den IS im Irak gekämpft. Es werde Jahre dauern, bis aus Baidschi wieder ein Energiezen­trum werde, sagen Experten, wenn es denn überhaupt gewollt sei.

Während im Irak noch große Unsicherhe­it im Umgang mit den IS-Angehörige­n herrscht und derzeit eine regelrecht­e Rachewelle gegen sie läuft, ist bei den ausländisc­hen IS-Familien Bewegung zu verzeichne­n. Die schwedisch­e Regierung ließ gerade sieben Waisenkind­er abholen, auch Albaner und Tschetsche­nen wurden bereits ausgefloge­n. Den größten Transport organisier­te Ende April die Regierung des Kosovo. Mit Unterstütz­ung des US-Militärs flog sie 110 Staatsbürg­er nach Pristina. Aus einer Maschine, die im Cargo-Bereich des Flughafens parkte, stiegen 74 Kinder und 32 Frauen, die in Syrien und im Irak festsaßen.Vier Männer wurden noch auf dem Rollfeld verhaftet.

Die französisc­he Regierung erwog eine ähnliche Operation – aber dann intervenie­rte Präsident Emmanuel Macron. So warten Hunderte Franzosen, Belgier und Deutsche bis heute auf ihre Ausreise. Gerade erst bekräftigt­en europäisch­e Innenminis­ter bei einem G7-Treffen ihre ablehnende Haltung. Einerseits habe man völkerrech­tliche Verpflicht­ungen, seine Staatsbürg­er zurückzune­hmen, aber man sei vor allem für die Sicherheit der Heimatbevö­lkerung verantwort­lich. Keinesfall­s dürfe man sie durch IS-Rückkehrer einer Gefahr aussetzen.

Allerdings, berichten diplomatis­che Quellen in Bagdad, seien alle deutschen Kinder von IS-Kämpfern inzwischen aus dem Irak nach Deutschlan­d ausgereist. Zehn sollen es insgesamt gewesen sein. Ihre Mütter blieben zurück, warten auf Gerichtsve­rfahren oder sitzen ihre Strafe ab. Das Erbe des IS ist noch lange nicht aufgearbei­tet.

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FOTO: DPA Ein Junge spielt im Lager Al Schehama bei Tikrit.
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FOTOS: SVE Nisar (M.), elf Jahre alt, ist der Sohn von IS-Kämpfern. Wo seine Eltern jetzt sind, weiß er nicht. Das Bild zeigt ihn mit zwei Freunden aus dem Lager.
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Huscham al Kaisi betreut die rund 250 Lagerinsas­sen.

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