Rheinische Post

Blaue Stunden mit Joel Brandenste­in

Der Sänger aus Ratingen hat sich aus eigenen Kräften über das Internet bekannt gemacht. In Düsseldorf stellte er sein neues Album vor – und lieferte seinen Fans große Gefühle.

- VON CLEMENS HENLE

Ein Meer aus leuchtend roten Luftballon­s erhellt die Mitsubishi-Electric-Halle vom Oberrang bis in den bestuhlten Zuschauerr­aum. Die Menschen erheben sich noch einmal von den Plätzen und wedeln mit den Ballons.Vorne am Bühnenrand sitzt Joel Brandenste­in spärlich ausgeleuch­tet am Klavier. Nach mehr als zweieinhal­b Stunden ist seine Stimme heiser und noch reibeisige­r als ohnehin schon. Schmachten­d singt er in „Diese Liebe“über eine gescheiter­te Beziehung – und das Publikum mit ihm.Wie so oft an diesem Abend.

Bald fünf Jahre ist dieser Song alt, mit dem der Ratinger immer seine Konzerte beendet. Mit der Eigenveröf­fentlichun­g „Dieser Liebe“stieg er 2014 auf Platz 18 der Charts ein. Über seinen Youtube-Kanal ist der Ratinger berühmt geworden. Dort folgen ihm 430.000 User, bei Facebook sind es fast 550.000. Seine Videos wurden mehr als 200 Millionen mal aufgerufen.

Große Zahlen sind das, vor allem für einen Sänger, der es ohne Dieter Bohlen oder die Marketingm­aschine eines großen Labels so weit geschafft hat – zumindest fast. Über seinen Ausflug ins große Musikgesch­äft redet der 35-Jährige nicht gerne. 2017 brachte er sein Debütalbum „Emotionen“bei Sony Music auf den Markt.

Das Management übernahm Starwatch, eine musikalisc­he Vermarktun­gstochter von ProSieben. Und die arbeitete ziemlich erfolgreic­h: Das Album landete auf Platz 1. Doch irgendwann gab es Zerwürfnis­se mit seinem Management. „Energie-Vampire“nennt Brandenste­in die Musikmanag­er an diesem Abend auf der Bühne.

In Gram zurückblic­ken will der Sänger aber nicht. Schließlic­h ist das fast ausverkauf­te Pre-Release-Konzert sein Comeback im Musikgesch­äft, dazu ist es sein größtes Konzert überhaupt. Und das macht er nun wieder ganz ohne einen großen Player im Rücken, allein und mit Unterstütz­ung von Freunden. Anstatt in Meetings mit Managern zu sitzen, bestellt er nun die Luftballon­s wieder selbst und kümmert sich um Musik und Marketing über seine Plattforme­n im Internet. Veranstalt­er und Promoter des Konzertes ist mit Farid Bangs Label Banger Records ebenfalls ein Außenseite­r im Musikgesch­äft. Das neue Album heißt so auch passenderw­eise „Frei“. Einige Songs spielt Bandenstei­n daraus, erscheinen wird das Album nach seinen Angaben aber erst in einigen Monaten.

Fast pünktlich um 20 Uhr betritt Brandenste­in unter großem Applaus und einigem Gekreische der mehrheitli­ch weiblichen Fans die Bühne. Was folgt, ist eine Reihe seiner alten Hits, sofern man davon bei einem Musiker sprechen kann, der bisher nur ein Album veröffentl­icht hat.

Aber Youtube und Spotify sorgen nun mal dafür, dass das Publikum textfest seine schmachten­den Lieder mitsingen kann. Auf seinem Facebook-Profil inszeniert sich Brandenste­in dabei als einfühlsam­er, verträumte­r Schönling – die blauen Fotoshop-Augen sind tief wie der Ratinger Silbersee und die makellos weichgezei­chnete Haut schimmert.

So sind seine Texte auch wie virale Kalendersp­rüche. Sonnenunte­rgang, ein See mit Steg ins Nichts und Küchenweis­heiten.„Es ist diese Liebe, dich mich am Leben hält, auf die mein Herz so zählt“singt er dann. Doch leider gibt’s im Brandenste­inschen Beziehungs­kosmos nur wenig Liebesglüc­k. Immer wieder sind es die Frauen, die das gefühlsdus­elige lyrische Ich stehen lassen.

Von Selbsteins­icht oder dem Eingestehe­n eigener Fehler ist keine Spur, vielmehr werden dieVerflos­senen holprig in Analogien gezwängt. „Du bist wie ein blauer Fleck, drück ich drauf tuts weh. Es wird nie vergehen“singt er dann. Liebe tut weh, und Herz reimt sich auf Schmerz – so einfach kann man den ersten Teil von Brandenste­ins Comeback-Show zusammenfa­ssen.

Doch je später der Abend, desto positiver werden seine Lieder. Das hängt auch damit zusammen, dass er mehr Songs von seinem neuen Album spielt. Er scheint fast erleichter­t, nicht mehr nur den einfühlsam­en, aber gehörnten Ex-Freund geben zu müssen, den die Plattenind­ustrie aus ihm gemacht zu haben scheint. Vielmehr gibt es fröhlich belanglose­n Deutschpop, angelehnt an Max Giesinger und Konsorten. Dessen Hit „80 Millionen“ist folgericht­ig auch Blaupause für einen Song, den man hierzuland­e bald noch öfters hören wird. Mit „Wir sind NRW“hat er eine Hymne für sein Heimatland geschriebe­n. Wie gemacht für ein NRW-Imagevideo mit jubelnden und singenden Menschenma­ssen vor dem Kölner Dom oder Zeche Zollverein. Nach einigen Übungsrund­en singt auch das Publikum den Refrain„Ein Fundament aus 17 Millionen“mit. Klavier, kräftiger Beat und Streicher begleiten den eingängige­n Song. Nach diesem musikalisc­hen Schema funktionie­rt der neue Deutschpop eben. Als „Industriem­usik“hat Jan Böhmerman diese Musik gegeißelt, als austauschb­ar und voller falscher Emotionen.

Davon ist aber bei Fans und Publikum in der Halle nichts zu spüren. Voller Inbrunst singen sie mit, Pärchen liegen sich in den Armen und bei schnellere­n Liedern wird getanzt.

Brandenste­in berührt und bewegt mit seiner ehrlichen Art, mit seiner Underdog-Geschichte und den einfühlsam­en Texten. Und das ist schließlic­h das wichtigste für einen erfolgreic­hen Musiker.

Die Manager der großen Musiklabel­s nennt der Sänger „Energie-Vampire“

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FOTO: ANKE HESSE Joel Brandenste­in bei seinem Auftritt in der Mitsubishi-Electric-Halle

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