Als der Wagen nicht kam
Im ewigen Lichte Gottes wird das alles unaussprechlich anders sein, aber der Mensch braucht eine bildhafte Vorstellung Gottes und des Himmels, er braucht Mittler und Fürsprecher, um dorthin zu gelangen aus seiner staubhaftenWinzigkeit und Nichtigkeit, die sein Wesensmerkmal sind trotz allen stupenden Höhenflugs seines Geistes. Gott hat den Menschen aus der gesamten Schöpfung herausgehoben und sie ihm anvertraut, indem er ihn zu seinem 366 367 Ebenbilde machte. Die denkbar höchste Form der Ebenbildschaft ist der freie Wille, sich durch die Sünde von Gott abzuwenden. Schon die antike Tragödie hat diese Größe und Anfälligkeit der menschlichen Natur erkannt. Auf einem schmalen Grat habe ich durch fast acht Jahrzehnte strauchelnd versucht, die rechten Schritte zu tun, um den mühsamen und oft gefährlichen Weg zu finden, der mich von der Lanze bis zur Atombombe führte, die vielleicht die Vorstufe zum apokalyptischen Ende bedeutet. Kaiser, Throne und Herrschaften
sind in dieser Zeit gestürzt, neue unheildrohende Mächte und Kräfte sind aufgestiegen, und die Welt zittert in der Angst vor den kommenden Dingen. Das deutsche Vaterland ist an allen Grenzen zerfledert und fast zur Hälfte seit mehr als zwei Jahrzehnten vom Feinde beherrscht. Die gesellschaftliche Ordnung ist zerbrochen, die Regierung schwächlich und unklar in der Zielsetzung. In der Kirche drohen Umsturz und Aufruhr. Aus gesichertem, großbürgerlichem Wohlstand bin ich abgestiegen zum vermögenslosen Staatspensionär. Trotz allen Bemühens habe ich nicht einmal für meine Schwester einen behaglichen Lebensabend sichern können. In meiner beruflichen Arbeit klafften Zielsetzung und Erfolg meist weit auseinander. Trotzdem bin ich dankbar für dies lange und bunte Leben, für alle guten und schönen Dinge dieser Welt, die mir zuteilwurden, für alle Güte und Liebe, die ich erfuhr, besonders von meiner lieben Schwester Ite, ohne die es dunkel und kalt gewesen wäre. Ich bejahe auch alles Missgeschick, das Gott mir gesandt hat. In manchen Fällen habe ich schon zu Lebzeiten, bald eher, bald später, erkannt, dass das vermeintliche Unglück eine gottgesandte Hilfe war. Zur Gänze hoffe ich in der Ewigkeit zu erfassen, dass der bunte und schöne Teppich meines Lebens, den Gott mir gewirkt hat, auch seine dunklen Stellen haben musste, und dass die Löcher darin von mir selbst gerissen wurden. Ich versuche auch die mancherlei Beschwerden des Alters in froher Geduld zu bejahen, denn gerade die fehlt mir. Seit einigen Monaten hat meine Sehkraft 367 368 so sehr nachgelassen, dass ich nur noch mühsam mit einer Lupe lesen kann. Aber das wird den Sinn haben, dass das Weltkind sich von den Dingen dieserWelt abwendet und das innere Auge mit der immer wiederkehrenden Oration der Kirche auf die celestia desideria (die himmlischen Ziele) richtet. Es erscheint als böser Widerspruch in sich, dass wir Christen trotz des Glaubens an die glorreiche Auferstehung so ungern von dieser Welt scheiden wie der Kardinal, dem sein Arzt nach gründlicher Untersuchung eröffnet: „Eminenz, Sie haben nur die Wahl zwischen dem Himmel und einer längeren Kur an der Riviera“, der daraufhin ohne Zögern antwortet: „Ich reise übermorgen zur Riviera“. Das entspricht aber durchaus der Schwäche der menschlichen Natur, welche die Dinge dieser Welt leichter erkennt und begreift als das unbegreifliche Wesen und Walten Gottes. Letztlich ist zudem der Wille zum irdischen Leben von Gott dem Menschen eingepflanzt, und das Festhalten am Leben ist eine Bejahung der Größe und Schönheit der Schöpfung Gottes. Obschon ich auch lieber an die Riviera reisen würde, will ich mich bemühen, zu allen Beschwerden des Alters und zur Todesnot „Ja Vater!“zu sagen. Ich bete um einen gnädigen und guten Tod. Excite Domine potentiam tuam et veni! (Erwecke Herr deine gewaltige Macht und komm!)