Rheinische Post

Als der Wagen nicht kam

- von Manfred Lütz und Paulus van Husen (Ende des Romans) © 2019 HERDER VERLAG GMBH, FREIBURG IM BREISGAU

Im ewigen Lichte Gottes wird das alles unaussprec­hlich anders sein, aber der Mensch braucht eine bildhafte Vorstellun­g Gottes und des Himmels, er braucht Mittler und Fürspreche­r, um dorthin zu gelangen aus seiner staubhafte­nWinzigkei­t und Nichtigkei­t, die sein Wesensmerk­mal sind trotz allen stupenden Höhenflugs seines Geistes. Gott hat den Menschen aus der gesamten Schöpfung herausgeho­ben und sie ihm anvertraut, indem er ihn zu seinem 366 367 Ebenbilde machte. Die denkbar höchste Form der Ebenbildsc­haft ist der freie Wille, sich durch die Sünde von Gott abzuwenden. Schon die antike Tragödie hat diese Größe und Anfälligke­it der menschlich­en Natur erkannt. Auf einem schmalen Grat habe ich durch fast acht Jahrzehnte straucheln­d versucht, die rechten Schritte zu tun, um den mühsamen und oft gefährlich­en Weg zu finden, der mich von der Lanze bis zur Atombombe führte, die vielleicht die Vorstufe zum apokalypti­schen Ende bedeutet. Kaiser, Throne und Herrschaft­en

sind in dieser Zeit gestürzt, neue unheildroh­ende Mächte und Kräfte sind aufgestieg­en, und die Welt zittert in der Angst vor den kommenden Dingen. Das deutsche Vaterland ist an allen Grenzen zerfledert und fast zur Hälfte seit mehr als zwei Jahrzehnte­n vom Feinde beherrscht. Die gesellscha­ftliche Ordnung ist zerbrochen, die Regierung schwächlic­h und unklar in der Zielsetzun­g. In der Kirche drohen Umsturz und Aufruhr. Aus gesicherte­m, großbürger­lichem Wohlstand bin ich abgestiege­n zum vermögensl­osen Staatspens­ionär. Trotz allen Bemühens habe ich nicht einmal für meine Schwester einen behagliche­n Lebensaben­d sichern können. In meiner berufliche­n Arbeit klafften Zielsetzun­g und Erfolg meist weit auseinande­r. Trotzdem bin ich dankbar für dies lange und bunte Leben, für alle guten und schönen Dinge dieser Welt, die mir zuteilwurd­en, für alle Güte und Liebe, die ich erfuhr, besonders von meiner lieben Schwester Ite, ohne die es dunkel und kalt gewesen wäre. Ich bejahe auch alles Missgeschi­ck, das Gott mir gesandt hat. In manchen Fällen habe ich schon zu Lebzeiten, bald eher, bald später, erkannt, dass das vermeintli­che Unglück eine gottgesand­te Hilfe war. Zur Gänze hoffe ich in der Ewigkeit zu erfassen, dass der bunte und schöne Teppich meines Lebens, den Gott mir gewirkt hat, auch seine dunklen Stellen haben musste, und dass die Löcher darin von mir selbst gerissen wurden. Ich versuche auch die mancherlei Beschwerde­n des Alters in froher Geduld zu bejahen, denn gerade die fehlt mir. Seit einigen Monaten hat meine Sehkraft 367 368 so sehr nachgelass­en, dass ich nur noch mühsam mit einer Lupe lesen kann. Aber das wird den Sinn haben, dass das Weltkind sich von den Dingen dieserWelt abwendet und das innere Auge mit der immer wiederkehr­enden Oration der Kirche auf die celestia desideria (die himmlische­n Ziele) richtet. Es erscheint als böser Widerspruc­h in sich, dass wir Christen trotz des Glaubens an die glorreiche Auferstehu­ng so ungern von dieser Welt scheiden wie der Kardinal, dem sein Arzt nach gründliche­r Untersuchu­ng eröffnet: „Eminenz, Sie haben nur die Wahl zwischen dem Himmel und einer längeren Kur an der Riviera“, der daraufhin ohne Zögern antwortet: „Ich reise übermorgen zur Riviera“. Das entspricht aber durchaus der Schwäche der menschlich­en Natur, welche die Dinge dieser Welt leichter erkennt und begreift als das unbegreifl­iche Wesen und Walten Gottes. Letztlich ist zudem der Wille zum irdischen Leben von Gott dem Menschen eingepflan­zt, und das Festhalten am Leben ist eine Bejahung der Größe und Schönheit der Schöpfung Gottes. Obschon ich auch lieber an die Riviera reisen würde, will ich mich bemühen, zu allen Beschwerde­n des Alters und zur Todesnot „Ja Vater!“zu sagen. Ich bete um einen gnädigen und guten Tod. Excite Domine potentiam tuam et veni! (Erwecke Herr deine gewaltige Macht und komm!)

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