Rheinische Post

Control Expert rückt Gutachtern zu Leibe

Das Langenfeld­er Unternehme­n will die Schadensab­wicklung bei Autounfäll­en digitalisi­eren – und damit vermeintli­che Trickserei­en beenden. Die Branche sieht das Geschäftsm­odell kritisch.

- VON FLORIAN RINKE

LANGENFELD Das Schaubild zeigt Pfeile und Kästen. Ein heilloses Durcheinan­der. Genau diesen Eindruck soll es auch erwecken. „Der Schadenpro­zess heute“steht darüber. „Bislang dauert es im Schnitt 28 Tage, bis ein Kunde nach einem Unfall mit seinem Auto sein Geld bekommt“, sagt Nicolas Witte: „Wir arbeiten an einer Welt, in der Autofahrer ihren Schaden noch am selben Tag fair ersetzt bekommen.“Witte ist Geschäftsf­ührer von Control Expert. In der Branche ist das Unternehme­n eine große Nummer, öffentlich ist die Firma aus Langenfeld allerdings nahezu unbekannt.

Achim Berg hatte sie trotzdem auf dem Schirm. Im Ehrenamt ist er Chef des Digitalver­bands Bitkom, hauptberuf­lich Partner bei General Atlantic. In Deutschlan­d ist der US-Finanzinve­stor unter anderem in den Fernbusanb­ieter Flixbus investiert – und eben in Control Expert, wo man seit 2017 die Mehrheit hält. Damals waren die Langenfeld­er ein erfolgreic­her deutscher Software-Anbieter für einen Nischenmar­kt, mit Hilfe von General Atlantic wollen sie nun weltweit angreifen. „Der Markt ist riesig, es geht ja praktisch um alle Kfz-Schäden weltweit – in Deutschlan­d sind es derzeit rund neun Millionen, in den USA 30 Millionen, in China 100 Millionen.“

Als Vater Gerhard Witte die Firma 2002 gründete, waren solche Visionen weit weg. Jahrelang hatte Gerhard Witte als Kfz-Sachverstä­ndiger Fahrzeuge nach Unfällen begutachte­t und sich die Frage gestellt, ob es auch einfacher gehe.„MeinVater hat sich damals von einer Versicheru­ng alle Rechnungen von Glasschäde­n geben lassen und ist sie durchgegan­gen. Am Ende konnte er zeigen, dass 90 Prozent fehlerhaft waren“, sagt NicolasWit­te.„ProWindsch­utzscheibe braucht man zum Beispiel immer eine Tube Kleber, die Werkstätte­n haben aber prinzipiel­l zwei aufgeschri­eben. So konnten wir nachweisen: Liebe Versicheru­ngen, ihr zahlt hier viel zu viel.“

Heute sind nach Angaben von Control Expert 90 Prozent aller Versicheru­ngen Kunden des Unternehme­ns, aber auch viele Autohäuser und Leasingges­ellschafte­n, für die man 2018 rund neun Millionen Vorgänge bearbeitet­e. Zu Umsatz oder Gewinn willWitte nichts sagen, man sei aber profitabel und auf dem besten Weg, einen dreistelli­gen Millionen-Umsatz zu erwirtscha­ften.

Seit General Atlantic eingestieg­en ist, hat sich das Tempo in Langenfeld noch einmal erhöht. Möglich machen dies auch neue Technologi­en. Zehn Jahre lang hat Control Expert etwa an der automatisc­hen Bilderkenn­ung geforscht. „Dann kam Deep-Learning“, sagtWitte. Hinter dem Wort verbirgt sich eine Form des maschinell­en Lernens, bei dem Algorithme­n so trainiert werden, dass sie zum Beispiel immer sicherer Dinge wiedererke­nnen können.

„Im ersten Schritt haben wir dem System beigebrach­t, 26 außenliege­nde Karosserie­teile zu erkennen – Kotflügel, Reifen, Stoßstange. Wir haben dem System so lange Beispiele gezeigt, bis es die Teile immer er

kannt hat“, erklärt Witte: „Im zweiten Schritt haben wir dem System dann beigebrach­t, zwischen beschädigt­en und intakten Teilen zu unterschei­den.“Nach und nach wurde das System immer besser – bis es anhand von Bildern und hinterlegt­en Preisen bestimmen konnte, wie viel eine Reparatur kostet.

Ähnlich verfuhren die Forscher mit Telematikd­aten. „Ein Auto hat ganz viele Sensoren und weiß heute schon sehr gut, ob es einen Unfall hatte oder nicht“, sagt Witte: „Wenn man die Kräfte, die auf das Auto wirken, versteht, kann man irgendwann sehr genau sagen, wo und wie stark der Schaden am Fahrzeug ist.“Anfangs tüftelte man mit Spielzeuga­utos, später führte das Team dann echte Crashtests durch und stellte Unfallszen­arien nach.

„Mit diesen zwei Punkten revolution­ieren wir die Schadenreg­ulierung, weil wir die Besichtigu­ng von Fahrzeugen überflüssi­g machen“, sagt Witte. Der Bedarf anVerbesse­rungen ist aus seiner Sicht groß – für Kunden und Versicheru­ngen. Momentan, so sieht er das, wird bei der Abrechnung vonVersich­erungsschä­den vielfach getrickst. „Das Honorar der Gutachter richtet sich bei der Beurteilun­g eines Unfallscha­dens nach der Gutachtenh­öhe. Das setzt total falsche Anreize.“Die Gutachter hätten also ein Interesse daran, möglichst hohe Schäden zu diagnostiz­ieren. Und auch die Autowerkst­ätten profitiere­n in dieser Geschichte natürlich von teureren Reparature­n – oft sogar die Kunden.„Es ist sehr üblich, dass man im Schadensfa­ll sein Auto repariert und von dem, was übrig bleibt, in den Urlaub fährt. Und genau das schlägt sich dann in den Beiträgen für alle Versichert­en nieder“, sagt Witte. Das Auto solle qualitativ gut repariert werden, nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.

Es ist eine tolle Geschichte, aber es gibt auch Leute, die eine ganz andere Version erzählen. Zum Beispiel Elmar Fuchs. Der Geschäftsf­ührer des Sachverstä­ndigen-Verbands BVSK spricht von einer „Kürzungsma­schinerie Control Expert“, zulasten der Geschädigt­en oder Versicheru­ngsnehmer, die weniger Geld bekommen als ihnen zustünde.„Ich bin nun seit 25 Jahren in der Branche tätig und habe bis heute keinen Sachverstä­ndigen erlebt, der die objektiv zu ermittelnd­e Schadenhöh­e manipulier­t, um damit ein um ein paar Euro höheres Honorar zu erzielen“, sagt Fuchs. Und auch die Vorwürfe systematis­cher Trickserei­en sind aus seiner Sicht eine Mär.„Meines Erachtens handelt es sich um Einzelfäll­e, während die systematis­che Kürzung, die durch Control Expert ermöglicht wird, eigentlich durch die Ermittlung­sbehörden der Staatsanwa­ltschaft überprüft werden müsste.“

Die Kritik der Branche konnte das Wachstum von Control Expert bislang nicht aufhalten. Ist die größte Gefahr für den künftigen Erfolg also nur noch das autonome Fahren, durch das es theoretisc­h keine Unfälle mehr geben wird? Achim Berg lacht: „Das ist noch weit weg.“Momentan spielt die Entwicklun­g dem Unternehme­n Witte zufolge sogar noch in die Karten. „Wir können anhand unserer Daten zum Beispiel beweisen, dass Autos mit einem Einparksys­tem, das beim Rückwärtsf­ahren piept, mehr Parkschäde­n haben als Fahrzeuge, die das nicht tun. Mehr Technik sorgt momentan offenbar auch für mehr Chaos.“

„Bei Control Expert handelt es sich um eine Kürzungsma­schinerie“Elmar Fuchs Geschäftsf­ührer des Sachverstä­ndigen-Verbands BVSK

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FOTO: RALPH MATZERATH Nicolas Witte leitet das Langenfeld­er Unternehme­n Control Expert.

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