Die Liebe und der Sinn des Lebens
„Weichen des Lebens“erzählt eine emotionale Geschichte über mehrere Jahrzehnte hinweg.
DÜSSELDORF (ry) Der chinesische Filmemacher Jia Zhangke ist seit vielen Jahren regelmäßig auf den großen Filmfestspielen in Europa anzutreffen. Schon mit seinem Debütfilm „Xiao Wu“konnte er im Jahr 1998 bei der Berlinale sowohl den „Wolfgang-Staudte-Preis“als auch den „NETPAC Award“gewinnen. Mit weiteren seiner Werken ging er in Venedig, wo er 2006 für „Still Life“den „Goldenen Löwen“erhielt, sowie in Cannes an den Start. Im vergangenen Jahr war er zudem Jurypräsident beim „Locarno Film Festival“. Der Chronist des Modernen gilt in Europa als einer der wichtigsten Filmemacher seines Landes, kurios ist jedoch vor allem, dass Jia Zhangke in seiner Heimat weitgehend unbekannt ist. Der Sender ARTE zeigt heute mit„Weichen des Lebens“eines seiner neueren Werke in einer Erstausstrahlung.
Die Filmerzählung durchläuft die Zeit von 1999 bis 2025, Momentaufnahmen im Leben von Tao (Tao Zhao), einer hübschen, selbstbewussten Frau aus bescheidenen Verhältnissen. Als sie kurz vor der Jahrtausendwende auf zwei attraktive Männer trifft, scheint ihr Leben, genau wie ganz China, im Umbruch zu sein. Das Trio verbringt viel Zeit miteinander, träumt von den scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten, die die Zukunft bietet. Was als Freundschaft beginnt, wird zum Kampf zwischen Rivalen: Liangzi (Jing Dong Liang) und Jinsheng (Yi Zhang) buhlen um die Gunst Taos und zwingen sie, sich zu entscheiden. Schließlich kann der Geschäftsmann Liangzi, der mit seinem westlich geprägten Lebensstil bei der jungen Tao punktet, seinen Mitbewerber aus dem Weg räumen.
Jinsheng ist am Boden zerstört, und als er von Taos Hochzeit erfährt, verlässt er seine Heimat. 15 Jahre zieht er als Wanderarbeiter durch die Bergbaugebiete des Nordens, doch die Erinnerung an Tao lässt ihn nicht los. An Staublunge erkrankt, wird er viele Jahre später zurückkehren und Geld von Tao annehmen, um sich behandeln zu lassen.
Doch zunächst wird Tao, frisch vermählt, schwanger. Das Eheglück ist aber nur von kurzer Dauer. Das Paar trennt sich, und Taos kleiner Sohn wird bei seinem Vater groß, der sich nach Australien abgesetzt hat. Nicht nur die Wege der einst guten Freunde verlaufen gegensätzlich: Die Muttersprache und chinesische Identität von Taos Sohn, der auf den bezeichnenden Namen Dollar (Zijian Dong) hört, gehen verloren. 2025 wird er seinen Vater für den Verlust seiner Wurzeln verantwortlich machen. Und eine Lehrerin, zu der er ein Vertrauensverhältnis hat, schlägt vor, seine Mutter Tao zu treffen. Die wohnt allein und lässt ihr Leben Revue passieren: 1999, 2014 und 2025, Stationen in einem Dasein geprägt von der Suche nach Sinn.
In „Weichen des Lebens“, wie auch in seinem jüngsten Spielfilm „Asche ist reines Weiß“(2018), stellt der chinesische Regisseur Jia Zhangke eine Frau in den Mittelpunkt der Erzählung, gespielt von seiner Lebensgefährtin Tao Zhao. Die Hauptfiguren beider Filme sind eng verwandt: Beide arbeiten sich über Jahre an der Fiktion der Liebe ab – das Einzige, für das es zu leben lohnt.
Jia Zhangkes Filme sind im Norden des Landes, der Provinz Shanxi, angesiedelt, dem„Ruhrgebiet Chinas“. Der Regisseur stammt von dort. Er, der aus dem System heraus operiert, thematisiert gern die Kehrseite dessen, was das chinesische Kino normalerweise entwirft: Seine Filme zeichnen sich durch einen betonten Realismus aus. Der Konflikt zwischen Tradition und Moderne interessiert ihn nicht. Seine Figuren sind radikal modern, aber als solche immer auch auf Identitätssuche.
Für Intetessierte läuft vor dem Film ab 21.45 Uhr eine Doku, die sich ebenfalls um Asien dreht. Für „Nordkorea – Kunst im Schatten der Bombe“ist der Norweger Morten Traavik mit anderen Künstlern in das Land gereist, um der Frage nachzugehen: Ist Austausch durch Kunst unter den Bedingungen einer Diktatur möglich?
Weichen des Lebens, 22.40 Uhr, ARTE