Rheinische Post

Die Geschichte der Bienen

- Von Maja Lunde

Diesmal waren Maiskörner in den Reis gemischt. Ich probierte davon.Wie immer war das Essen ein wenig zu salzig und mit künstlich hergestell­tem Chili und Soja gewürzt. Fleisch hatte ich schon lange nicht mehr gegessen. Für den Anbau von Tierfutter brauchte man große Flächen urbaren Bodens, und noch dazu mussten viele der traditione­llen Futterpfla­nzen ebenfalls bestäubt werden. Das war die Mühe unseres aufwändige­n Handwerks nicht wert.

Die Dose war leer, bevor ich satt war, und ich stand auf und stellte sie wieder in den Sammelkorb. Ich konnte meinen Körper nur schwer ruhig halten und joggte auf der Stelle. Meine Beine waren müde, aber trotzdem steif, und sie kribbelten, weil sie dort oben in den Bäumen so lange in starren Positionen ausgeharrt hatten.

Doch die Bewegung brachte keine Besserung. Ich sah mich verstohlen um, keiner der Aufseher beachtete mich. Rasch legte ich mich auf den Boden, um meinen schmerzend­en Rücken auszustrec­ken.

Ich schloss für einen Moment die Augen und versuchte, die Stimmen der anderen Frauen aus meiner Gruppe auszublend­en, doch ich hörte, wie ihr Geplauder stetig anschwoll und wieder abflaute. Wo kam dieses Bedürfnis nur her, warum mussten immer alle gleichzeit­ig reden? Das war schon so gewesen, als wir kleine Mädchen waren. Stunde um Stunde mit Gesprächen, deren Themen immer nur den kleinsten gemeinsame­n Nenner bildeten, bei denen man nie etwas vertiefte, es sei denn, die Person, über die man sprach, war gerade nicht anwesend.

Ich dagegen zog Gespräche unter vier Augen vor oder gar keine Gesell

schaft, bei der Arbeit oft Letzteres. Und zu Hause hatte ich Kuan, meinen Mann. Allerdings waren es auch nicht unbedingt ausschweif­ende Unterhaltu­ngen, die uns miteinande­r verbanden. Kuan lebte immer im Hier und Jetzt, er strebte nicht nach Wissen, trachtete nicht nach mehr. Aber in seinen Armen fand ich Ruhe. Außerdem hatten wir unseren dreijährig­en Sohn Wei-Wen, über ihn konnten wir reden.

Als mich das Geschnatte­r der anderen Frauen schon fast in den Schlaf gewiegt hatte, setzte es abrupt aus. Alle waren verstummt.

Ich setzte mich auf. Die anderen reckten ihre Köpfe. Über den Pfad kam ein Tross auf uns zu.

Es waren Kinder, nicht älter als acht Jahre, viele kannte ich aus WeiWens Schule. Alle trugen die gleichen Arbeitskle­ider, dieselben synthetisc­hen, beigefarbe­nen Anzüge, die auch wir trugen, und eilten in unsere Richtung, so schnell ihre kurzen Beine sie trugen. Zwei erwachsene Begleiter hielten die Gruppe zusammen, einer ging an der Spitze, der andere am Ende des Zuges. Beide hatten durchdring­ende Stimmen, mit denen sie die Kinder ständig zur Ordnung riefen. Sie schimpften jedoch nicht, sondern erteilten ihre Anweisunge­n vollerWärm­e und Mitgefühl. Denn auch wenn die Kinder noch nicht ganz verstanden hatten, wohin sie unterwegs waren, die Erwachsene­n wussten es.

Die Kinder gingen Hand in Hand, ungleiche Paare, große und kleine, die ältesten passten auf die jüngsten auf. Ihr Gang war holperig und ungeordnet, aber sie hielten sich fest an den Händen, als wären sie zusammenge­leimt. Vielleicht hatte man ihnen strengsten­s befohlen, einander auf keinen Fall loszulasse­n.

Ihre Blicke waren auf uns und auf die Bäume gerichtet. Es waren neugierige Blicke, einige kniffen die Augen zusammen und legten den Kopf schief, als wären sie zum ersten Mal hier, obwohl sie alle in diesem Bezirk aufgewachs­en waren und nie eine andere Natur kennengele­rnt hatten als diese endlosen Reihen von Obstbäumen vor der Dunkelheit des verwildert­en Waldes im Süden. Ein kleines Mädchen betrachtet­e mich lange mit ihren großen, engstehend­en Augen. Sie blinzelte einige Male, dann schniefte sie heftig. An der Hand hielt sie einen mageren Jungen. Er gähnte laut und ungeniert und ohne die Hand vor den Mund zu halten, nicht ahnend, dass sich sein Gesicht zu einem einzigen riesigen Schlund verzog. Er gähnte nicht aus Langeweile, dafür war er zu jung. Wahrschein­lich hatte ihn die Mangelernä­hrung müde gemacht. Ein dünnes, hochgewach­senes Mädchen führte einen an deren kleinen Jungen. Er atmete schwer und mit offenem Mund, er hatte wohl eine verstopfte Nase. Das Mädchen schleifte ihn hinter sich her, während sie ihr Gesicht in die Sonne streckte, blinzelte und die Nase kräuselte, sie hielt den Kopf immerzu in derselben Position, als wollte sie sich bräunen oder neue Kräfte tanken.

Sie kamen jedes Jahr, die neuen Kinder. Aber waren sie schon immer so klein gewesen? Waren sie jünger geworden?

Nein. Sie waren ungefähr acht Jahre alt. Wie immer. Gerade mit der Schule fertig geworden. Oder was man als Schule bezeichnet­e … Die Kinder lernten die Zahlen und einige Schriftzei­chen, davon abgesehen war die Schule aber nur eine Form der kontrollie­rten Verwahrung. Der Verwahrung und Vorbereitu­ng auf das Leben hier draußen. Die Kinder lernten, lange stillzusit­zen. Und ihre Feinmotori­k wurde geschult, ab einem Alter von drei Jahren knüpften sie Teppiche. Die kleinen Finger eigneten sich zur Fertigung raffiniert­er Muster ebenso hervorrage­nd wie zur Arbeit hier draußen auf den Feldern.

Jetzt passierten die Kinder uns, richteten die Blicke wieder nach vorn auf die nächsten Bäume und gingen zu einem anderen Feld weiter. Der zahnlose Junge stolperte, aber das große Mädchen hatte ihn so fest im Griff, dass er nicht fiel.

Dann verschwand­en die Kinder weiter den Hang hinab und zwischen den Bäumen.

»Wo kommen die hin?«, fragte eine Frau aus meinem Team.

»Sicher zu Feld 49 oder 50«, antwortete eine andere.

»Da haben sie bislang noch nicht angefangen.«

Mein Magen krampfte sich zusammen. Auf welches Feld sie genau kamen, spielte doch keine Rolle. Es ging darum, was sie dort machen mussten.

Die Pfeife ertönte ein zweites Mal. Wir kletterten wieder nach oben, ich bewegte mich langsam, aber mein Herz raste. Nein, die Kinder waren nicht jünger geworden. Es war der Gedanke an Wei-Wen, der mich das glauben ließ. In fünf Jahren war er acht. In nur fünf Jahren war er an der Reihe. Hier draußen waren seine fleißigen Hände mehr wert als irgendwo sonst. Seine kleinen Finger waren bereits feinjustie­rt für diese Art von Arbeit.

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