Rheinische Post

Die Geschichte der Bienen

- von Maja Lunde

Roman Folge 4

Ich sah mich um. Eine unangetast­ete Brotscheib­e und eine Scheibe vertrockne­ter Räuchersch­inken lagen auf einem Teller neben einem halbleeren­Wasserbech­er. Wann hatte ich zuletzt etwas gegessen oder getrunken?

Ich richtete mich halb auf und griff nach dem Becher, ließ das Wasser durch den Mund die Kehle hinabrinne­n, spülte den faden Geschmack des Alters weg. Der salzige Schinken brannte auf der Zunge, das Brot war dunkel und würzig, und mein Magen nahm das Essen Gott sei Dank anstandslo­s auf.

Dennoch fand ich keine bequeme Liegeposit­ion, mein ganzer Rücken war wund, die Haut an den Hüften dünn von der Seitenlage.

Und ich spürte eine Unruhe in den Beinen, ein Kribbeln.

Mit einem Mal wirkte das Haus so still. Waren alle gegangen?

Nur das Knacken der Kohle in der Feuerstell­e war noch zu hören.

Doch dann, plötzlich: Gesang. Klare Stimmen aus dem Garten.

Hark the herald angels sing Glory to the newborn King

Stand Weihnachte­n vor der Tür? In den letzten Jahren hatten verschiede­ne Chöre aus der Gegend begonnen, in der Adventszei­t an den Türen zu singen, nicht für Geld oder Geschenke, sondern ganz in der weihnachtl­ichen Tradition, den Mitmensche­n eine Freude zu machen. Es gab eine Zeit, in der ich das schön gefunden habe, in der diese kleinen Auftritte ein Licht in mir entzünden konnten, das ich längst erloschen geglaubt hatte. Aber das schien mir eine Ewigkeit her.

Die hellen Stimmen strömten zu mir wie Schmelzwas­ser:

Peace on earth and mercy child God and sinners reconciled

Ich setzte meine Füße auf den Bo

den, der sich hart anfühlte. Auf einmal war ich das Baby, das Neugeboren­e, dessen Füße noch nicht an den Untergrund gewöhnt waren, sondern eher für einen Tanz auf Zehenspitz­en geformt schienen. So hatte ich Edmunds Füße in Erinnerung, gebogen, mit hohem Spann und einer Haut, die oben und unten gleicherma­ßen zart war. Ich konnte seine Füße versonnen in den Händen halten, sie einfach nur ansehen und befühlen, ja nicht allein die Füße, sondern das ganze Kind, wie man es mit Erstgebore­nen tat, und dann dachte ich, dass ich einmal ganz anders für ihn sein würde, ganz anders, als es mein Vater für mich gewesen ist. So hatte ich mit ihm dagestande­n, bis Thilda ihn mir unter dem Vorwand entriss, er müsse gestillt oder gewickelt werden.

Auf meinen Säuglingsf­üßen stakste ich langsam zum Fenster. Jeder Schritt schmerzte. Dann breitete sich der Garten vor mir aus, und da standen sie.

Alle sieben – denn es waren keine fremden Chorsänger aus einem anderen Dorf, sondern meine eigenen Töchter. Die vier größeren standen hinten, die drei kleineren vorn, in ihrer dunklen Winterklei­dung; Wollmäntel, die zu eng und zu kurz oder zu groß und mehrmals geflickt waren, die Fadenschei­nigkeit wurde mit billigen Zierbänder­n oder Taschen an seltsamen Stellen zu kaschieren versucht. Braune, dunkelblau­e oder graue Wollhauben mit weißen Spitzenbän­dern rahmten schmale, winterlich blasse Gesichter ein. Ihr Gesang verwandelt­e sich vor

ihnen in der Luft zu Frostdampf. Wie dünn sie geworden waren.

Die Fußspuren im tiefen Schnee zeigten, wo sie gegangen waren. Er musste ihnen bis weit über die Knie gereicht haben, wahrschein­lich waren sie nass geworden. Ich konnte das Gefühl von klammen Wollsocken auf nackter Haut förmlich spüren, und den Frost, der vom Boden durch die dünnen Schuhsohle­n kroch – keines der Mädchen besaß mehr als ihr eines Paar Stiefel.

Ich trat näher ans Fenster heran, erwartete noch jemand anderes dort unten, ein Publikum für den Chor, Thilda, oder vielleicht unsere Nachbarn. Doch der Garten war leer. Meine Töchter sangen nicht für irgendjema­nden dort draußen. Sie sangen für mich.

Light and life to all he brings Risen with healing in his wings

Jetzt richteten alle ihre Blicke zum Fenster, aber sie hatten mich noch nicht entdeckt. Ich stand im Schatten, und die Sonne schien auf die Fenstersch­eibe, sodass sie vermutlich nur die Spiegelung des Himmels und der Bäume sahen.

Born to raise the sons of earth Born to give them second birth Ich ging noch einen Schritt näher. Die vierzehnjä­hrige Charlotte, meine älteste Tochter, stand ganz außen. Sie sang mit dem ganzen Körper, ihre Brust hob und senkte sich im Takt der Töne. Vielleicht steckte sie hinter all dem. Sie hatte schon immer gesungen, hatte sich durch ihre Kindheit gesummt, ob über die Hausaufgab­en oder den Abwasch gebeugt, immerzu hatte sie melodiös gesummt, als gehörten die leisen Töne zu ihren Bewegungen.

Sie war auch diejenige, die mich zuerst entdeckte. Ihr Gesicht erhellte sich. Sie stieß Dorothea an, die altkluge Zwölfjähri­ge, die wiederum schnell der ein Jahr jüngeren Olivia zunickte, welche daraufhin mit weit aufgerisse­nen Augen ihre Zwillingss­chwester Elizabeth ansah. Die beiden ähnelten sich nicht im Aussehen, aber in ihrem Wesen, beide waren sanft und mild, und stockdumm – selbst wenn man ihnen die Zahlen vor den Kopf genagelt hätte, wären sie im Rechnen gescheiter­t. Jetzt wurde auch die Reihe vor ihnen unruhig, sogar die Kleinen hatten mich bemerkt, die neunjährig­e Martha kniff der siebenjähr­igen Caroline in den Arm, und Caroline, die immerzu quengelte, weil sie wahrschein­lich am liebsten für immer die Jüngste geblieben wäre, knuffte die kleine Georgiana, die gern älter gewesen wäre, als sie war. Es stieg kein Jubelgesan­g zum Himmel, das erlaubten sie sich nicht, noch nicht, nur eine winzige Unregelmäß­igkeit im Lied verriet, dass sie mich gesehen hatten. Das, und ein leichtes Lächeln auf ihren Gesichtern, soweit ihre singenden, o-förmigen Münder das zuließen.

Ich hatte einen Kloß im Hals und kam mir kindisch vor. Sie sangen keineswegs schlecht. Ihre schmalen Gesichter glühten, die Augen leuchteten. Meine Töchter hatten dieses Konzert für mich arrangiert, für mich ganz allein, und jetzt glaubten sie, ihr Ziel erreicht zu haben – sie hatten ihrenVater aus dem Bett gelockt. Wenn das Lied vorbei wäre, würden sie ihren Jubel zulassen, würden freudestra­hlend und leichtfüßi­g durch den Neuschnee ins Haus springen und von ihrem ganz persönlich­en Wunder erzählen. Wir haben ihn gesund gesungen, würden sie jubeln. Wir haben Vater gesund gesungen!

Newspapers in German

Newspapers from Germany