Die Geschichte der Bienen
WennWei-Wen nur fleißig genug war und sich früh als guter Schüler hervortat… „Warum solltest du drei haben und ich nur zwei?“Wei-Wen sah feixend auf die Reiskörner hinab.
„Dann habe ich eben nur zwei, und du hast drei. So.“Ich vertauschte die Reiskörner auf unseren Tellern. „Wie viele haben wir zusammen?“
Wei-Wen legte lustlos seine kleine Faust auf den Teller und zog damit Kreise.
„Ich will mehr Ketchup.“„Also wirklich, Wei-Wen.“Entschieden packte ich seine Faust und hob sie weg, sie war ganz klebrig vom Essen. „Das heißt Könnte ich bitte noch Ketchup haben.“Ich seufzte und zeigte erneut auf die Reiskörner. „Zwei bei mir. Und drei bei dir. So können wir sie zählen. Eins, zwei, drei, vier, fünf.“
Wei-Wen fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und hinterließ einen Ketchupstreifen. Dann streckte er sich nach der Flasche. „Könnte ich bitte noch Ketchup haben?“
Ich hätte früher anfangen sollen. Diese eine Stunde am Tag war alles, was wir hatten. Aber ich vergeudete sie oft, ließ die Zeit mit Essen und Gemütlichkeit verstreichen. Er sollte schon viel weiter sein. „Fünf Reiskörner“, wiederholte ich. „Fünf Reiskörner. Stimmt’s?“
Er gab seine Versuche auf, die Flasche zu erreichen, und warf sich so heftig zurück, dass der Stuhl schwankte. Diese jähen, ungestümen Bewegungen waren typisch für ihn. Er war von Geburt an robust gewesen. Und vergnügt. Allerdings hatte er erst spät laufen gelernt, dafür verspürte er dann doch nicht die nötige Unruhe, sondern saß einfach nur gern auf seinem Po und strahl
te alle an, die mit ihm redeten. Und mit ihm reden wollten viele, denn Wei-Wen war eines dieser Babys, die man schnell zum Lächeln bringen konnte.
Ich nahm die Flasche mit dem roten Ersatzprodukt und schüttete etwas davon auf seinen Teller. Vielleicht wurde er dann arbeitswilliger? „So. Bitteschön.“
„Ja! Ketchup!“
Ich nahm zwei weitere Reiskörner aus der Schüssel auf dem Tisch.
„Sieh mal. Jetzt kommen noch zwei dazu.Wie viele haben wir dann insgesamt?“
Aber Wei-Wen konzentrierte sich nur auf das Essen.
Jetzt war sein ganzer Mund mit Ketchup verschmiert.
„Wei-Wen? Wie viele haben wir dann?“
Er putzte seinen Teller noch einmal leer, betrachtete ihn eine Weile und hob ihn dann in die Luft. Dazu machte er Brummgeräusche wie ein Propellerflugzeug. Er liebte die altenVerkehrsmittel, war vollkommen fasziniert von Hubschraubern, Autos, Bussen, stundenlang konnte er auf dem Boden herumkrabbeln und imaginäre Straßen, Flughäfen und Landschaften für seine Fortbewegungsmittel bauen.
„Bitte, Wei-Wen!“Ich nahm ihm den Teller aus der Hand und stellte ihn außerhalb seiner Reichweite wieder ab. Dann zeigte ich erneut auf die kalten, trockenen Reiskörner.
„Sieh mal. Fünf plus zwei. Was macht das dann?“
Meine Stimme zitterte ein wenig. Ich überspielte es mit einem Lächeln, das Wei-Wen gar nicht bemerkte, weil er sich angestrengt nach dem Teller reckte.
„Ich will es wiederhaben! Das Flugzeug! Es ist meins!“Im Wohnzimmer räusperte sich Kuan. Er hatte die Füße auf den Tisch gelegt und hielt eine Tasse Tee in der Hand, über deren Rand hinweg er mich betont gelassen ansah.
Ich ignorierte sie beide und begann zu zählen. „Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs und … sieben!“Ich lächelte Wei-Wen an, als wären diese sieben Reiskörner etwas ganz Außergewöhnliches. „Insgesamt sind es sieben. Stimmt’s? Siehst du es? Dass es sieben sind? Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben.“
Nur das. Wenn er nur das verstand, würde ich Ruhe geben und ihn weiterspielen lassen. Kleine Schritte, Tag für Tag.
„Ich will es wiederhaben!“Er streckte seine mollige Hand so weit vor, wie er konnte.
„Nein, der Teller bleibt jetzt da stehen, Freundchen.“Meine Stimme wurde lauter.„Wir beide werden jetzt erst mal zählen.“
Kuan seufzte kaum hörbar, stand auf und kam zu uns herein. Er legte mir die Hand auf die Schulter.„Es ist schon acht Uhr.“
Ich schüttelte seinen Griff ab. „Eine Viertelstunde schafft er noch“, sagte ich und starrte ihn eindringlich an.
„Tao …“
„Eine Viertelstunde schafft er.“Ich fixierte ihn weiter. Er wurde stutzig. „Aber warum?“
Ich sah weg, hatte keine Lust, es ihm zu erzählen, ihm von den Kindern zu erzählen. Ich wusste sowieso, was er sagen würde. Sie seien nicht jünger geworden, sondern so alt wie immer, acht Jahre, wie schon im letzten Jahr. So sei es nun einmal. Seit vielen Jahren. Und wenn er dann weiterreden würde, kämen die Phrasen, die so aufgeblasen waren, dass sie gar nicht zu ihm passten: Wir müssen froh sein, hier leben zu dürfen. Es hätte schlimmer kommen können. Wir hätten in Peking landen können. Oder Europa. Wir müssen das Beste aus unserer Situation machen. Im Hier und Jetzt leben. Den Moment genießen. Es waren Worthülsen, so abweichend davon, wie er normalerweise redete, als hätte er sie irgendwo gelesen, aber er sprach sie mit einem solchen Nachdruck aus, als glaubte er wirklich daran.
Kuan strich über Wei-Wens zerzaustes Haar. „Ich würde gern mit ihm spielen“, sagte er sanft.
Wei-Wen zappelte in seinem Stuhl, einem Babystuhl, der eigentlich zu klein für ihn war, aber dadurch steckte er so fest darin, dass er meinem Heimunterricht nicht entkommen konnte. Er streckte sich erneut nach dem Teller.
„Ich will es wiederhaben! Meins!“Kuan sah mich nicht an, er sagte nur im selben, zurückgenommenen Tonfall: »Du bekommst es nicht, aber weißt du was, die Zahnbürste kann auch ein Flugzeug sein.“Mit diesen Worten hob er Wei-Wen aus dem Stuhl.
„Aber… Kuan…“
Er schwang ihn leichthändig von einem Arm zum anderen, während er Richtung Bad ging, überhörte mich und plauderte weiter mit Wei-Wen. Er trug unseren Sohn, als würde er nichts wiegen, ich dagegen hatte schon jetzt das Gefühl, dass sein Kinderkörper allmählich schwer wurde.