Rückzug des Geschriebenen
Lesen und Schreiben kosten Mühe. Man sollte sie sich machen.
Lesen ist schon eine mühsame Sache. Die Augen müssen scharf stellen, das Gehirn muss aus Buchstaben Wörter bilden, aus Wörtern Sätze, aus Sätzen Sinn. Kein Wunder, dass Geschriebenes heute vielfach umgangen wird, um es den Menschen bequemer zu machen. Dann werden Nachrichten eben nicht mehr getippt, sondern Sprachnachrichten hinterlassen. Und viele nehmen den großen Lauschangriff im Wohnzimmer in Kauf, um sich von Lautsprechern mit Internetzugriff heraussuchen zu lassen, was sie sonst in Suchmaschinen eingeben müssten. Die Schrift ist auf dem Rückzug. Allerdings nicht immer. Jetzt in den
Ferien greifen zum Beispiel viele doch wieder zum Buch, ob gedruckt oder auf digitale Geräte gesendet. Zum Ausspannen gönnt man sich ein wenig Textentschlüsselei, weil das so nett in andere Welten katapultiert. Dazu muss man keinen Fantasy-Schinken verputzen. Selbst mit anregenden Sachbüchern gleitet man lesend in andere Gedanken. Man macht Urlaub von sich selbst. Was kann einem Erholsameres passieren?
Nun geschieht dieses Wegdriften natürlich auch, wenn man fernsieht, einen Film schaut oder zockt. Womöglich intensiver, weil bewegte Bilder Sog entfalten. Und es kann eine Wonne sein, sich dem hinzugeben. Doch beruht der Effekt auf Überwältigung. Man wird überschwemmt von Reizen, die andere gesendet haben. Beim Lesen steuert man alles selbst. Man stellt sich vor, was der eigene Bilderschatz im Kopf so hergibt. Auch das kann überwältigend sein. Doch es ist ein aktiver Vorgang. Man tritt ein ins Reich der Buchstaben, man klaubt die nötige Konzentration zusammen und dann geht’s los mit der eigenmächtigen Verwandlung von Schrift in Sinn. Ein selbstbewusster Vorgang. Man sollte ihn sich nicht nehmen lassen.
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