Lust auf Sex nach Injektion?
Seit Viagra ist die Erwartung groß, dass auch für die Frau ein Lustmittel auf den Markt kommt. Nun soll es so weit sein: Vyleesi heißt die Spritze, die seit August in den USA zu kaufen ist. Aber muss man Unlust überhaupt therapieren?
DÜSSELDORF Eigentlich wollte der Hormonspezialist ein neues Bräunungsmittel testen. Davon hatte er acht Stunden lang eine Erektion. Auch ein Eisbeutel brachte keine Linderung. Er hatte sich aus Versehen zu viel von dem Mittel gespritzt. Was durch einen kuriosen Fehler in den 80er Jahren entdeckt wurde, ist Anfang August als Präparat zur Heilung der gestörten Lust der Frau auf dem US-Markt erschienen.
Spritze rein, Lust an – so in etwa soll man sich die Wirkung des neuen Medikaments mit dem Namen Vyleesi vorstellen. Vorher darf man aber nicht zimperlich sein. Die Spritze setzt man selbst. In den Bauch oder den Oberschenkel drückt man 0,3 Milliliter des neuen Mittels und wartet dann 45 Minuten. Danach darf man allerdings ebenfalls nicht zimperlich sein. Übelkeit gehört zu den häufigsten Nebenwirkungen. Acht Prozent der Versuchsteilnehmerinnen empfanden das als so schlimm, dass sie aus den Studien zum Mittel ausgetreten sind. Aber wer all das überwindet, der soll endlich empfinden, was angeblich gesunde Frauen von selbst empfinden müssten: Lust am Sex. Das jedenfalls ist dasVersprechen, mit demVyleesi beworben wird. Eine Packung enthält vier Spritzen, sie kostet 899 Dollar (811 Euro). Die Höchstdosis pro Monat liegt bei acht Spritzen.
Das Konzept „Viagra für die Frau” hat schon einmal Furore gemacht. Vor vier Jahren wurde die Tablette Adyyi zugelassen. Auf den ersten Blick wirkt Vyleesi wie ein Fortschritt: Adyyi muss täglich eingenommen werden, Vyleesi nur vor dem Sex. Die Tablette darf nicht mit Alkohol kombiniert werden, die Spritze schon. In Deutschland sind beide Mittel nicht zugelassen. Das könnte so manchen dazu verleiten, ein paar rosafarbene Vyleesi-Pakete aus dem Amerika-Urlaub mitzubringen. Die Forschungslage zu dem Mittel ist jedoch nicht überzeugend.
„In den klinischen Studien erreichten 25 Prozent der Patientinnen eine spürbare Verbesserung ihres sexuellen Verlangens – auf einer Skala von 1 bis 6 eine Verbesserung um 1,2”, sagt der Gynäkologe Christian Albring. „In der Placeboguppe erreichten 17 Prozent einen solchen Effekt. Das bedeutet, dass nur bei acht Prozent derer, die das Arzneimittel anwendeten, ein messbarer Effekt auftrat.” Bekannt ist, dass derWirkstoff Bremelanotid die Schaltstelle der Melanocortine aktiviert. Warum oder wie der Wirkstoff auf die weibliche Lust wirken soll, sei „unbekannt“, heißt es sogar im Zulassungsbescheid der amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA.
Damit nicht genug: Mehr als Adyyi hat Vyleesi auch noch Nebenwirkungen. „In den klinischen Studien entwickelten 40 Prozent der Probandinnen Übelkeit, teilweise bis hin zu Erbrechen, und ein Drittel von ihnen brauchte Medikamente, um die Übelkeit zu beherrschen. Jede fünfte Frau bekam Hitzewallungen, jede zehnte Kopfschmerzen”, sagt Albring. Frauen mit Bluthochdruck dürfen das Medikament nicht nehmen. Überhaupt eignet es sich nur für Frauen vor der Menopause. Und dann ist da noch die Frage, ob es die Störung, gegen die es helfen soll, überhaupt gibt.
Einig sind sich die Forscher nicht. Sicher ist, die Pharmaindustrie tut viel dafür, um die Krankheit, die sie heilen will, auch bekannt zu machen. Hyperactive Sexual Desire Disorder (vermindertes sexuelles Verlangen), abgekürzt HSDD, soll eine Störung sein, die vor denWechseljahren auftritt. Obwohl Sex also biologisch noch eindeutig vorgesehen ist, hat die Frau kein Interesse mehr. Das soll zu persönlichem Leid und Stress in der Beziehung führen. Woher die Störung kommt, können sich Forscher nicht erklären. Einer der bekanntesten Fragebögen zur Diagnose wurde von Boehringer Ingelheim entwickelt. Jenem Pharmakonzern, der auch den Wirkstoff entwickelt hat, der in Adyyi steckt. AMAG, die Firma, dieVyleesi produziert, hat wiederum eine Webseite, auf der angeblich betroffene Frauen endlich sagen sollen dürfen, wie frustriert sie über HSDD sind.
Die Paar- und Sexualtherapeutin Claudia Kader-Tjijenda ist ebenfalls skeptisch: „Die Frage ist doch: Was ist krankhaft? Wenn jemand darunter leidet, dass er keine Lust auf Sex hat, dann muss man handeln.“Es gebe aber genügend Frauen, die darin kein Problem sehen. Durch eine solche Spritze entsteht laut Kader-Tjijenda ein falscher Eindruck: „Dass die Frau einfach Lust haben muss. Dabei muss man fragen: War das schon immer so? Hat sie grundsätzlich keine Lust oder nur mit diesem Partner? Was ist sonst los in ihrem Leben? Und hat sie ihre Sexualität überhaupt schon entdeckt?“Das sei auch bei älteren Frauen und im übrigen auch bei älteren Männern nicht selbstverständlich.
Wie auch etwas anderes nicht selbstverständlich ist: Psychologische Unlust ist nicht immer weiblich und körperliche Unlust nicht immer männlich. „Immer mehr Männer in meiner Praxis sagen, dass sie einfach keine Lust auf sexuelle Handlungen haben. Ich würde sogar sagen, es sind inzwischen genauso viele wie Frauen“, sagt die Paar- und Sexualtherapeutin. Das macht dann auch eine Behandlung mit Viagra schwer. Im Gegensatz zum allgemeinen Glauben reicht die Pille allein nämlich nicht. „Wenn der Mann im Kopf nicht erregt ist, bekommt er trotz Viagra auch körperlich keine Erektion.“Die Lust im Kopf wird jedoch durch einiges erschwert. Weil Viagra eine Stunde vorher eingenommen werden muss, müssen Paare einen Sex-Termin vereinbaren. Mögliche Nebenwirkungen reichen von Übelkeit bis zu Kopfschmerzen und Sehstörungen. „Und das wird gekrönt von der Erwartung des Partners, dass es nun klappen muss“, sagt Kader-Tjijenda. „Deshalb üben viele Paare den Umgang mit Viagra, sonst ist das zu viel Druck für den Mann.“Vyleesi funktioniert ähnlich. Wieso sollte es Frauen also anders gehen?
Bleibt noch die eine Frage:Wie viel Sex ist normal? Jede Studie sagt dazu etwas anderes. Mal ist es einmal Sex pro Woche, mal zwei- bis dreimal. „Man weiß, dass Studien zum Thema Sex nicht verlässlich sind, weil viele, die teilnehmen, nicht die Wahrheit angeben, sondern das, wovon sie denken, dass man es von ihnen erwartet“, sagt Kader-Tjijenda. Normal ist also das, was jedes Paar für sich definiert, „und zwar immer das, was sich gut anfühlt“, sagt die Therapeutin, „egal ob das täglich ist oder einmal im Monat.“