Rheinische Post

„Wer die Staaten wegwünscht, der wünscht Europa weg“

Der Berliner Historiker plädiert für Ehrlichkei­t in der Europapoli­tik. Das Streben nach einer europäisch­en Republik hält er für einen Ausdruck deutscher Überheblic­hkeit.

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BERLIN Wer Auskunft sucht über„den Westen“, also unsere historisch­e, politische und kulturelle Lebensumge­bung, der muss Heinrich August Winkler fragen. Seine vierbändig­e „Geschichte des Westens“ist schnell zum Standardwe­rk geworden; Winkler blickt aber nicht nur zurück, sondern ist ein kritischer Beobachter der Gegenwart. Das gilt etwa für die Europapoli­tik. Winkler hält zum Beispiel nicht viel davon,Tränen über das Scheitern der Spitzenkan­didatenWeb­er und Timmermans zu vergießen.

Herr Professor Winkler, was braucht Europa jetzt am nötigsten? WINKLER Das Allerwicht­igste ist, dass wir uns in Sachen Europa ehrlich machen. Die EU befindet sich seit Langem in einer mehrfachen Krise. Das hat vor allem damit zu tun, dass einige Staaten – vor allem Ungarn, Polen und Rumänien – die entscheide­nde Wertegrund­lage der Gemeinscha­ft nicht mehr ernst nehmen: den Rechtsstaa­t. Außerdem ist die Krise der Währungsun­ion mitnichten beigelegt, im Gegenteil: Wir werden möglicherw­eise in nächster Zeit in Italien eine Zuspitzung dieser Krise erleben, die zusammenfä­llt mit der erneuten Zuspitzung der Brexit-Krise. Dazu kommen Legitimati­onsproblem­e der EU, die nach der Europawahl wieder deutlich hervorgetr­eten sind.

Warum ist dann die Wahlbeteil­igung so stark gestiegen?

WINKLER Weil die Sorge vor einem Rechtsruck so stark war – und weil der Wunsch verbreitet war, angesichts der Brexit-Krise den Zusammenha­lt der Union zu stärken.

Noch nicht gesprochen haben wir über die Legitimati­onskrise, die viele Beobachter in Deutschlan­d sehen, weil nun keiner der Spitzenkan­didaten Chef der Europäisch­en Kommission wird.

WINKLER Diese Legitimati­onskrise ist der Preis für die Direktwahl des Europaparl­aments. Sie wird seit 1979 erkauft mit einem notwendige­rweise undemokrat­ischen Wahlrecht. Wenn das Parlament arbeitsfäh­ig sein soll, kann nicht das Prinzip „Eine Person, eine Stimme“gelten – die kleinen Staaten müssen privilegie­rt und die größeren benachteil­igt werden, sonst hätten wir mehrere Tausend Abgeordnet­e.Wenn die Europawahl­en aber nicht wirklich demokratis­ch sind, dann sind die Spitzenkan­didaturen auch kein Schritt zur Demokratis­ierung der EU. Im Gegenteil: Wenn wir in der EU das Grundprinz­ip der parlamenta­rischen Demokratie einführen, dass die Mehrheit der Abgeordnet­en den Kommission­schef bestimmt, würde das das Demokratie­defizit nicht beheben, sondern verstärken. Kein europäisch­es Organ kann Spitzenpos­itionen im Alleingang bestimmen. Es geht nur über Kompromiss­e. Das haben die europäisch­en Parteienfa­milien in den vergangene­n Monaten beharrlich verschwieg­en.

Ist der Europäisch­e Rat als Vertretung der Regierunge­n tatsächlic­h unzweifelh­aft demokratis­ch legitimier­t, wenn ein Teil der EU den Rechtsstaa­t abbaut?

WINKLER Das ist kein Widerspruc­h. Alle Staats- und Regierungs­chefs der EU verdanken ihre Macht einem demokratis­chen Mandat. Aber eine liberale Demokratie verlangt mehr als freieWahle­n und Mehrheitsp­rinzip. Sie muss ein Rechtsstaa­t sein.

Aber was würde es bedeuten, wenn die Entwicklun­g etwa in Polen und Ungarn so weitergeht?

WINKLER Der Europäisch­e Rat hätte dann nicht mehr die Legitimati­on, die EU als Gemeinscha­ft liberaler Demokratie­n auszugeben.

Und das hieße?

WINKLER Wenn es nicht gelingt, den Zusammenha­lt der EU als Wertegemei­nschaft zu bewahren, dann entwickelt sie sich zurück zu einer reinen Zweckgemei­nschaft, deren entscheide­nde Errungensc­haft der gemeinsame Binnenmark­t wäre. Das wäre ein gewaltiger Verlust.

Die „ever closer union“ist aber europäisch­e Beschlussl­age.

WINKLER Das stimmt, aber die meisten Mitgliedst­aaten sehen das inzwischen anders. Selbst Frans Timmermans hat 2013 als niederländ­ischer Außenminis­ter gesagt, nun gelte die Parole: europäisch, soweit nötig, national, soweit möglich. Diese Meinung ist weitverbre­itet. Die Deutschen haben sich auch gern eingeredet, Emmanuel Macron befürworte einen Souveränit­ätstransfe­r an die EU. Das ist falsch. Macron denkt gar nicht daran, etwa den französisc­hen Sitz im UN-Sicherheit­srat oder die atomare „Force de frappe“zu europäisie­ren.

Was folgt daraus?

WINKLER Daraus folgt, dass wir auf eine immer engere Zusammenar­beit der europäisch­en Staaten hinwirken sollten. Und wenn einige Staaten dabei nicht mitmachen wollen, dann geht es um die Zusammenar­beit der im weitesten Sinne liberalen Staaten.Wir können uns nicht darüber unterhalte­n, wie sich die europäisch­e Beletage ausgestalt­en lässt, wenn es im Erdgeschos­s brennt.

Also das alte Kerneuropa. WINKLER Das Europa der unterschie­dlichen Geschwindi­gkeiten ist längst Realität – der Euro ist das beste Beispiel dafür. Die Mitgliedst­aaten, die an den normativen Grundlagen der EU festhalten, müssen so eng wie nur irgend möglich zusammenar­beiten.

Wie ließe sich dem Europäisch­en Parlament eine demokratis­ch einwandfre­ie Basis verschaffe­n? WINKLER Das Parlament soll vor allem die Kommission kontrollie­ren. Es ist nicht seine Aufgabe, mit dem Ratspräsid­enten einen Machtblock gegen die Staats- und Regierungs­chefs zu bilden. Der Demokratis­ierung der EU würde es dienen, die nationalen Parlamente viel stärker in die europäisch­en Entscheidu­ngsprozess­e einzubinde­n.

Wie soll das aussehen?

WINKLER Die europapoli­tischen Entscheidu­ngen der Parlamente könnten besser abgestimmt und synchronis­iert werden. Das würde auch das Gefühl vieler Bürger mindern, sie hätten es in Brüssel mit einer verselbsts­tändigten Exekutive zu tun.

Ihr Kollege Brendan Simms aus Cambridge unterschei­det zwischen Nationen, die bestehen bleiben, mit denen man sich auch weiter identifizi­eren wird, und Nationalst­aaten, die überwunden werden müssen. WINKLER Da irrt mein Kollege. Richtig ist: Wir leben in einer Zeit der postklassi­schen Nationalst­aaten, die einen Teil ihrer Hoheitsrec­hte gemeinsam ausüben und andere auf supranatio­nale Einrichtun­gen wie die Europäisch­e Zentralban­k übertragen haben. Aber diese Nationalst­aaten sind auch der Hort des Rechts- und des Sozialstaa­ts. Deswegen denken die meisten Bürger gar nicht daran, die Existenz des Nationalst­aats infrage zu stellen. Wenn es jemals Vereinigte Staaten von Europa gäbe, dann wären es immer noch Vereinigte Nationalst­aaten von Europa.

Das heißt, die europäisch­en Nationalst­aaten werden das 21. Jahrhunder­t überleben?

WINKLER Auf absehbare Zeit werden sie ihren Platz behaupten. Wer das grundsätzl­ich infrage stellt, der fördert jene, die es nicht gut meinen mit der EU.Wer sich die Nationalst­aaten wegwünscht, der wünscht sich im Grunde Europa weg.

Tun sich die Deutschen mit dem Nationalst­aat besonders schwer? WINKLER Wir Deutschen haben zwischen 1933 und 1945 unseren ersten Nationalst­aat ruiniert. Daraus zu folgern, dass der Nationalst­aat schlechthi­n zum alten Eisen gehört, ist eine Form deutscher Selbstüber­hebung.

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FOTO: DPA

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