Rheinische Post

Pingpong der Stile

In unserer Serie beschäftig­en wir uns heute mit der Stilvielfa­lt eines Kunstwerks.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Eklektizis­mus ist legalisier­te Kleptomani­e. Man klaut mitVorsatz, aus unbeherrsc­hbarem Trieb – und wird nicht zur Rechenscha­ft gezogen.

Man kann es auch milder formuliere­n: Da fließen Stile zusammen, es kommt zu Begegnunge­n, Verschmelz­ungen, Ergänzunge­n. Jeder große Komponist ist irgendwann mal eklektisch, Mozart lässt sich türkisch inspiriere­n im „Rondo alla turca“. Strawinsky­s Neoklassiz­ismus ist ein generation­enübergrei­fendes Pingpong der Stile. Bei Johann Sebastian Bach zeigen sich italienisc­he und französisc­he Spurenelem­ente. Und dem großen Claudio Monteverdi glückt in seiner „Marienvesp­er“jene Form von Eklektizis­mus, die fast schon ans Crossover reicht: Renaissanc­e-Polyphonie, die noch aus der Gregoriani­k widerhallt, paart sich mit dem virtuos konzertant­en Stil des Frühbarock.

In seinen besten Erscheinun­gsformen ist Eklektizis­mus eben nicht träger Stillstand, nicht wahllose Selbstbedi­enung, sondern Aufbruch in die Zukunft. Oder es ist eine bewusste Haltung, wie sie der Postmodern­e innewohnt: als bewusstes Sammeln, Zitieren, Integriere­n. Komponiere­n beinhaltet gerade in unserer Zeit das souveräneV­erfügen über zahllose frühere, abgeschlos­sene Stile, es ist letztlich eine Art Schöpfen aus der Musikgesch­ichte wie aus einer Cloud. Man kann es auch Collage nennen.

Wer auf kleinerem Raum eklektisch verfährt, begeht auch schon mal ein Plagiat – wenn er anderswo einen Melodiesch­nipsel klaut und seinem neuen Song einspeist. Davon leben Rechtsanwä­lte und Urheberrec­htsprozess­e.

In Kunst und Architektu­r gibt es genügend Beispiele, dass das „Eklektos“(griechisch für: das Ausgewählt­e) eine fruchtbare Nachbarsch­aft von Einflüssen und Stilen, aber auch ein schrecklic­her Mischmasch sein kann. Wer je im herrlichen Hauptbahnh­of von Antwerpen ankam und sich auf den turmhohen Fluren und beim Verlassen reckte und umdrehte, der durfte mit ein bisschen optischem Feinsinn ins Staunen geraten – wie sich Byzantinis­mus, Neogotik und Jugendstil in dieser „Eisenbahn-Kathedrale“famos mischen. Und auch das römische Pantheon lässt grüßen.

Wie es sich für den Eklektizis­mus geziemt, gibt es keine formalen Grenzen. Zeitlich kann man ihn sowieso nicht einordnen. Zudem reihen sich andere Ismen nahtlos ein, etwas der Historismu­s oder der Exotismus. In jedem Fall ist Eklektizis­mus das Gegenteil von Purismus. Der kann bezwingend in seiner Reinheit sein – aber auch schrecklic­h langweilig.

Der manchmal gescholten­e Eklektiker in den Künsten war und ist inWahrheit ein Bonvivant des Geistes, ein Grenzgänge­r, ein Schmecklec­ker.

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