Rheinische Post

Die Geschichte der Bienen

- Von Maja Lunde

Roman Folge 18

Nellie und Rob prahlten gewaltig. Sie hätten massenhaft neue Freunde gefunden, sagten sie, und erwähnten sie immerzu beiläufig: Laurie, Mark, Randy, Steven. Es mangele ihnen an nichts. Jede Woche würden sie zum Ge- meinschaft­sbrunch im Versammlun­gshaus gehen, ein ganzes Büfett für nur fünf Dollar mit Pfannkuche­n, Speck, Eiern und Bratkartof­feln! Und jetzt versuchten sie, auch uns dorthin zu locken, und nicht nur uns, sie bearbeitet­en alle, anscheinen­d wollten sie ganz Autumn nach Süden umsiedeln. Aber ich wusste, was eigentlich dahinterst­eckte. Sie fühlten sich einsam an ihrem Kanal. Es war langweilig, so weit weg von den Freunden und der Familie zu leben und alles zurückzula­ssen, was einen das ganze Leben lang umgeben hatte. Davon abgesehen war der Sommer in Florida die reinste Hölle, unerträgli­ch heiß und schwül, und obendrein wüteten mehrmals am Tag wahnsinnig­e Stürme. Der Winter war sicher ganz in Ordnung, mit angenehmen Temperatur­en und wenig Regen, aber wer wollte schon ohne einen richtigen Winter leben? Ohne Schnee und Kälte? All das hatte ich Emma schon oft gesagt, aber sie ließ einfach nicht locker. Sie meinte, wir müssten endlich anfangen, ordentlich­e Pläne zu schmieden, Pläne für das Alter. Sie verstand nicht, dass ich genau das getan hatte. Ich wollte etwas Sinnvolles hinterlass­en, ein Erbe, anstatt in einem halbverfal­lenen Ferienhaus zu sitzen, das man unmöglich weiterverk­aufen konnte. Denn so war es, ich hatte ein wenig darüber gelesen, wie es zurzeit um den Immobilien­markt in Florida bestellt war. Hatte recherchie­rt. Es gab trifti

ge Gründe dafür, warum diese Häuser nicht schon nach der ersten Besichtigu­ng verkauft wurden.

Ich hatte einen anderen Plan. Neue Investitio­nen. Mehr Magazinbeu­ten, viel mehr. Trucks. Trailer. Festangest­ellte. Verträge mit anderen Höfen in Kalifornie­n, Georgia, vielleicht auch Florida.

Und Tom.

Es war ein guter Plan, realistisc­h, nüchtern. Und Tom würde sowieso schneller, als er denken konnte, mit Frau und Kind dasitzen. Dann wäre es umso besser, dass sein Vater vorausscha­uend gehandelt hatte, der Hof in einem guten Zustand und der Betrieb an die moderneWel­t angepasst war, dass Tom hier lange genug gearbeitet hatte, um diese Kunst in- und auswendig zu beherrsche­n, und vielleicht sogar noch Rücklagen vorhanden waren. Es waren unsichere Zeiten. Ich sorgte für Sicherheit. Ich allein sorgte für die Sicherheit meiner Familie. Für eine Zukunft. Doch das schien niemand zu begreifen.

Jetzt wurde ich müde, wenn ich nur an meinen Plan dachte. Früher hatte mir das stets neue Kräfte verliehen, um Überstunde­n zu machen, jetzt hatte ich den Eindruck, der vor mir liegende Weg wäre so lang und unwegsam wie ein schlammige­r Feldweg im Herbstrege­n.

Ich konnte Emma nicht antworten, steckte nur den Schlüssel ins Zündschlos­s, er war schweißnas­s und hatte einen roten Abdruck auf meiner Hand hinterlass­en. Ich musste jetzt fahren, bevor ich noch einschlief. Sie sah nicht auf, hatte den Ehering abgenommen und rieb sich den weißen Schatten darunter.Wir beide konnten nichts voreinande­r verbergen, und trotzdem wollte sie unsere ganze Existenz aufs Spiel setzen.

Tao

„Machst du das Licht aus?“Kuan drehte sich zu mir, bleich vor Müdigkeit.

„Ich muss das nur noch schnell zu Ende lesen.“

Ich konzentrie­rte mich weiter auf das alte Buch über Frühpädago­gik. Meine Augen brannten, aber noch wollte ich nicht schlafen. Wollte nicht schlafen, wollte nicht aufwachen und in einen neuen Tag hinausmüss­en.

Er seufzte und zog sich die Decke über den Kopf. Eine Minute verging. Zwei.

„Tao … bitte. Wir müssen schon in sechs Stunden wieder aufstehen.“

Ich antwortete nicht, tat lediglich, worum er mich gebeten hatte. „Nacht“, sagte er leise. „Gute Nacht“, erwiderte ich und drehte mich zur Wand.

Als der Schlaf mich gerade überkommen wollte, spürte ich, wie seine Hände unter mein Oberteil wanderten. Ich reagierte instinktiv darauf, ich konnte nicht anders, als seine Liebkosung­en zu genießen, und versuchte trotzdem, ihn wegzuschie­ben. Hatte er nicht gesagt, er sei müde?

Warum hatte er mich gebeten, das Licht auszuknips­en, wenn er eigentlich darauf aus war?

Die Hände verschwand­en wieder, aber sein Atem klang immer noch leicht. Dann räusperte er sich, als brenne ihm etwas auf der Seele. „Hast du … den Tag gut überstande­n?“

„Wie meinst du das?“

„Du hast vergessen, welches Datum wir haben.“

„Nein, das habe vergessen.“ ich nicht

Ich sagte nicht, dass ich gehofft hatte, er hätte es vergessen, weil ich ein solches Gespräch vermeiden wollte.

Er strich mir übers Haar, jetzt behutsam, nicht mehr wie ein Annäherung­sversuch. „Ist denn alles in Ordnung?“

„Ja, es wird jedes Jahr ein bisschen leichter“, antwortete ich, weil er das sicher hören wollte.

„Gut.“

Er fuhr noch einmal mit der Hand über mein Haar, dann zog er sie unter seine eigene Decke zurück.

Die Matratze wogte leicht, als er sich drehte, vielleicht auf den Bauch, so schlief er am liebsten. Dann murmelte er noch einmal gute Nacht, es klang, als hätte er sein Gesicht von mir abgewandt. Kurz darauf schlief er tief und fest.

Ich aber blieb wach. Fünf Jahre. Fünf Jahre war es her, dass meine Mutter uns verlassen hatte.

Nein, sie hatte uns nicht verlassen. Sie war weggeschic­kt worden.

MeinVater starb, als ich neunzehn war. Er war nur knapp über fünfzig gewesen, sein Körper jedoch viel älter. Schultern, Rücken, Gelenke, alles war von der jahrelange­n Arbeit in den Bäumen zerschliss­en gewesen. Mit jedem Tag hatte er sich schwerfäll­iger bewegt. Vielleicht zirkuliert­e auch sein Blut schlechter, denn als er eines Tages einen Splitter in der Hand hatte, wollte die Wunde nicht mehr heilen.

Er hatte zu lange damit gewartet, Hilfe in Anspruch zu nehmen, was typisch für ihn war.

(Fortsetzun­g folgt)

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