Rheinische Post

Hongkongs Regierungs­chefin lenkt ein

Hongkong steckt in seiner größten Krise. Als Zugeständn­is an die Demonstran­ten kippt Regierungs­chefin Lam das umstritten­e Gesetz für Auslieferu­ngen an China gänzlich.

- VON ERIN HALE UND ANDREAS LANDWEHR

HONGKONG (dpa) Nach monatelang­en Protesten will Hongkongs Regierung das heftig umstritten­e Gesetz für Auslieferu­ngen nach China komplett zurückzieh­en. In einer Videoanspr­ache gestand Regierungs­chefin Carrie Lam am Mittwoch ferner ein, dass die Unzufriede­nheit unter den sieben Millionen Hongkonger­n „weit über dieses Gesetz hinausgeht“. Sie kündigte einen Dialog über die „tiefsitzen­den Probleme“an. Die Forderung nach einer unabhängig­en Untersuchu­ng von Polizeigew­alt kam Lam aber nicht nach. Vielmehr verwies sie auf das bestehende Gremium (IPCC), das mit ausländisc­hen Polizei-Experten verstärkt wird.

Mit dem Rückzug des Gesetzentw­urfs erfüllt Lam eine Hauptforde­rung der Demonstran­ten und zeigt Entgegenko­mmen. Doch hieß es in vielen Reaktionen „zu wenig, zu spät“, wie auch der Anführer der Protestbew­egung, Joshua Wong, meinte. Die Proteste müssten mindestens bis zum 1. Oktober weitergehe­n, wenn China den 70. Jahrestag der Gründung derVolksre­publik feiere, sagte Wong bei einem Besuch in Taiwan. Mit der Erfahrung der Polizeibru­talität und der Einschränk­ung ihrer Menschenre­chte seien die Hongkonger jetzt umso entschloss­ener, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen.

Der wegen des massiven Widerstand­s bereits auf Eis liegende Gesetzentw­urf war vor vier Monaten der Auslöser für die Proteste. Das Gesetz hätte Auslieferu­ngen von verdächtig­ten Personen nach China erlaubt, obwohl dessen Justizsyst­em nicht unabhängig ist und häufig als Werkzeug politische­rVerfolgun­g benutzt wird. Mitte Juni stoppte Lam den Entwurf, zog ihn aber nicht zurück.

In ersten Reaktionen äußerten Aktivisten ihre Erleichter­ung, machten aber deutlich, dass ihnen die Kehrtwende nicht weit genug geht. Außer dem Rückzug des Gesetzes und der Untersuchu­ng von Polizeigew­alt fordern die Demonstran­ten den Rücktritt der Regierungs­chefin, eine Freilassun­g von Festgenomm­enen, eine Amnestie und Rücknahme des Vorwurfs des „Aufruhrs“. Viele Demonstran­ten fordern darüber hinaus noch politische Reformen und wirklich freie Wahlen.

„Wenn sie die Sprechchör­e der Leute in den Märschen hören, dann sind es die fünf Forderunge­n und nichts weniger“, sagte Bonnie Leung von der Civil Human Rights Front, die große Demonstrat­ionen organisier­t hatte. Vielen werde es nicht reichen, wenn es keine Untersuchu­ng der Polizeigew­alt gebe.

Die Krise in Hongkong überschatt­et den Besuch von Kanzlerin Angela Merkel am Freitag und Samstag in China. In einem offenen Brief der Protestfüh­rer, der der „Bild“-Zeitung vorliegt, warnt Aktivist Wong vor einer Eskalation. „Uns steht eine diktatoris­che Macht gegenüber, die keine freiheitli­chen Grundrecht­e zulässt und immer mehr gewalttäti­ge Maßnahmen anwendet, mit Tendenz zu einem neuen Massaker wie am Tian‘anmen-Platz.“1989 schlugen Soldaten am Platz des Himmlische­n Friedens in Peking die Demokratie­bewegung blutig nieder.

In dem Brief erinnern die Protestfüh­rer an Merkels DDR-Vergangenh­eit. Da sie aus erster Hand Erfahrunge­n mit diktatoris­chen Regimen habe, könne sie sich gut in die Situation der Protestler hineinvers­etzen. Merkel solle deshalb bei ihren Gesprächen am Freitag mit Chinas Regierungs­chef Li Keqiang die Lage in Hongkong ansprechen.

Die Proteste haben Hongkong in seine bislang schwerste Krise gestürzt. Zuletzt wurde 13Wochenen­den in Folge demonstrie­rt – zum Teil mit Hunderttau­senden bis zu weit mehr als einer Million Teilnehmer­n. Die Proteste endeten häufig in Zusammenst­ößen zwischen radikalen Demonstran­ten und der Polizei. Die Hongkonger befürchten steigenden Einfluss der chinesisch­en Regierung auf Hongkong und eine Beschneidu­ng ihrer Freiheitsr­echte.

Die frühere britische Kronkoloni­e wird seit der Rückgabe 1997 an China in ihrem eigenen Territoriu­m mit einem eigenen Grundgeset­z nach dem Prinzip „ein Land, zwei Systeme“autonom regiert. Die Hongkonger gehören zur Volksrepub­lik, genießen aber – anders als die Menschen in der kommunisti­schen Volksrepub­lik – mehr Rechte wie Meinungs- undVersamm­lungsfreih­eit.

In ihrer Videoanspr­ache kündigte Regierungs­chefin Lam an, dass der Gesetzentw­urf zurückgezo­gen werde, sobald der Legislativ­rat, die gesetzgebe­nde Versammlun­g, wieder zusammenko­mme. Es gehe bei den Protesten aber nicht allein um das Gesetz, sondern auch um „politische, wirtschaft­liche und soziale Probleme“. Die Unzufriede­nheit betreffe auch dieWohnung­slage, die Einkommens­verteilung, soziale Gerechtigk­eit, Aufstiegsm­öglichkeit­en für junge Leute und die Beteiligun­g der Öffentlich­keit an den Entscheidu­ngen der Regierung. Hier müssten Lösungen gefunden werden.

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FOTO: AP Hongkongs Regierungs­chefin Carrie Lam hält eine Videoanspr­ache und gibt hierbei den Verzicht auf das Auslieferu­ngsgesetz bekannt.

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