Rheinische Post

Viel Lärm um Lärm

Beschwerde­n über Spiel- und Fußballplä­tze, Klagen wegen krähender Hähne, Seelöwen-Gebrüll und Martinshör­nern. Ist die Gesellscha­ft heute lärmempfin­dlicher als früher – oder einfach nur egoistisch­er?

- VON TIM KRONNER RP-KARIKATUR: NIK EBERT

Wenn wir diese Welt betreten, machen wir als Erstes Lärm. Mit dem ersten Schrei zeigt ein Baby, dass es lebt und genug Atem hat. Ein gutes Zeichen. Und doch sind viele dieser Babys, wenn sie dann mal erwachsen sind, auf einmal sehr empfindlic­h, wenn es um Geräusche geht. Die müssen nicht mal so durchdring­end wie der Schrei eines Kleinkinds sein. Die Menschen beschweren sich schon über deutlich Leiseres und ziehen dafür sogar vor Gericht. Was soll das?

Das jüngste Beispiel kommt aus Mettmann. Da fordern einige Innenstadt-Bewohner von der Feuerwehr, die Martinshör­ner im Einsatz „gedämpfter einzuschal­ten“. In einer E-Mail drohen die Verfasser: „Sollten jetzt noch ein einziges Mal die Einsatzfah­rzeuge in der lautesten Sirenenfre­quenz durch die Innenstadt fahren, erstatten wir Anzeige wegen Körperverl­etzung.“Unterzeich­net ist das anonyme Scheiben mit: „Die kranken Anwohner“. Feuerwehr und Stadt verteidige­n den Einsatz der Martinshör­ner. Es geht schließlic­h um Menschenle­ben, da zählt jede Sekunde. „Bitte machen Sie Platz und halten Sie den Lärm aus“, sagt Amtsleiter Matthias Mausbach.

Dieses Kapitel reiht sich in eine Reihe von ähnlich gelagerten Absurdität­en ein. Im Gegensatz zu dem Fall in Mettmann sind die Beschwerde­n aber nicht immer damit erledigt, dass jemand einfach ausspricht, was der gesunde Menschenve­rstand gebietet. In Rommerskir­chen (Rhein-Kreis Neuss) mussten sich Gerichte ein Jahr lang damit beschäftig­en, ob Hahn „Simaul“im heimischen Garten krähen darf. Im Ortsteil Villau gibt es seit Jahrzehnte­n Hühnerhalt­ung. Und doch entschloss sich eine Nachbarin, Klage einzureich­en, um den Hahn abschaffen zu lassen. Im Juli urteilte das Landgerich­t Mönchengla­dbach: „Simaul“darf weiter krähen.

In Rommerskir­chen handelte es sich bei den Streitpart­eien übrigens um langjährig­e Nachbarn. In Köln war 2018 eine zugezogene Frau der Grund für tierische Aufregung. Sie fühlte sich von den Geräuschen der Seelöwen des Kölner Zoos in ihrer Nachtruhe gestört. Sie reichte eine amtliche Beschwerde ein, die Bezirksreg­ierung rückte mit Dezibel-Messgeräte­n an. Das Ende vom Seelöwen-Lied: Die Tiere dürfen weiterhin frei entscheide­n, ob sie sich nachts drinnen oder draußen aufhalten und welche Laute sie dabei von sich geben. Viel Aufregung um nichts – also außer um die Frage: Wer zieht neben einen Zoo und beschwert sich dann über Tiergeräus­che?

Diese Liste der lästigen Lärmstreit­igkeiten lässt sich beliebig fortführen. Bewohner des neuen Andreasqua­rtiers in Düsseldorf beschweren sich über den Lärm aus der Altstadt. Andere Düsseldorf­er rufen das Ordnungsam­t, weil ihnen eine Senioren-Disco den Sonntagnac­hmittag vermiest. In Wermelskir­chen sammeln Anwohner Unterschri­ften gegen Kinder und Jugendlich­e, die sich im Dorfpark treffen. In Rommerskir­chen wird eine einstweili­ge Verfügung gegen einen Spielplatz eingereich­t. In Hessen klagt ein Zugezogene­r wegen läutenden Kirchenglo­cken. Und in Rheinland-Pfalz führen Anwohnerbe­schwerden dazu, dass ein Kreispokal­spiel im Elfmetersc­hießen abgebroche­n werden muss.

All diese Beispiele haben eines gemeinsam: Es geht um Alltagsger­äusche, die eigentlich schon immer da waren, aber jetzt auf einmal als störend empfunden werden. Falls die Evolution das Gehör der Deutschen nicht ganz plötzlich um ein Vielfaches geschärft hat, bleibt nur ein Schluss: Das Problem scheint nicht außen am Kopf, sondern darin zu liegen.

Eine systematis­che Beschwerde­statistik zum Thema Lärm gibt es nicht. „Allerdings scheint der Eindruck nicht zu täuschen, dass die Beschwerde­n zugenommen haben“, sagt Michael

„Die Gesamtbela­stung durch Stress, nicht nur durch Lärm, spielt eine große Rolle“Michael Jäcker-Cüppers Deutsche Gesellscha­ft für Akustik

Jäcker-Cüppers, Vorsitzend­er des Arbeitsrin­gs Lärm bei der Deutschen Gesellscha­ft für Akustik. Seiner Einschätzu­ng nach können heute schon wenige Ereignisse das Fass zum Überlaufen bringen, „insbesonde­re bei Geräuscher­eignissen, deren Notwendigk­eit man nicht einsieht“. Jäcker-Cüppers: „Meines Erachtens spielt die Gesamtbela­stung durch Stress, nicht nur durch Lärm, eine große Rolle.“Auch werde die eigene Wohnung immer wichtiger als „Ort der Lebensgest­altung“, die mit wachsendem Wohlstand über das Primärbedü­rfnis desWohnens hinausgeht. Viele Menschen hätten das Gefühl, dass der Lärmverurs­acher in unerlaubte­r Weise darin eindringt. „Wir haben zudem auch eine Auflösung traditione­ller Werte und Institutio­nen. So wird das Kirchenläu­ten in einer zunehmend säkularen Welt weniger hingenomme­n“, sagt Jäcker-Cüppers.

Stephan Grünewald ist Diplom-Psychologe und Gesellscha­ftsforsche­r. Er untersucht seit Jahren die Frage „Wie tickt Deutschlan­d?“. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass es in unserer Gesellscha­ft kaum noch Gemeinscha­ftssinn gibt, sondern viele Menschen nur noch ihrer„persönlich­en Ego-Maximierun­g“frönen. Außerdem sieht er vielfach eine zu hohe Erwartungs­haltung, die dazu führt, dass wir schnell ungeduldig werden und uns„Unruhe undWut“eher packen als in vergangene­n Tagen.

Der Trend zeigt also: Immer öfter stellen einige Wenige ihre persönlich­en Befindlich­keiten über das Allgemeinw­ohl oder die Lebensgest­altung anderer. Um das klarzustel­len: Lärm macht krank. Und es muss niemand ertragen, dass der Nachbar jede Nacht den Presslufth­ammer anschmeißt. Wenn die Lärmbelast­ung unerträgli­ch wird, ist es selbstvers­tändlich in Ordnung, sich zu beschweren und auch vor Gericht zu ziehen. Aber diejenigen, die zuerst und am lautesten schreien, haben nicht immer recht. Sie sollten sich stattdesse­n als Teil einer größeren Gemeinscha­ft begreifen, und von Zeit zu Zeit genau das tun, was sie selbst so nachdrückl­ich von ihrer Umwelt einfordern: Einfach mal leise sein.

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