Rheinische Post

Özdemirs Kampfkandi­datur

Cem Özdemir will Fraktionsv­orsitzende­r der Grünen werden – vielleicht auch mehr.

- VON HOLGER MÖHLE

BERLIN Ein Hybrid. Er kann so. Er kann aber auch anders. Cem Özdemir zeigt auf sein Fahrrad. Leuchtende­s Grün – mit eingebaute­r Option auf Batteriebe­trieb. „Ein Hybrid“, sagt Özdemir und steigt aufs Rad. In diesem Fall wählt er die Variante Muskelkraf­t. Den Hilfsantri­eb spart er sich erst einmal. Er könnte ihn noch brauchen in der nächsten Zeit, wenn er auch politisch eine höhereWatt­zahl anschlagen muss. Der 53 Jahre alte Realo ist in diesen Tagen wieder ein gefragter Mann. Der langjährig­e Parteichef von Bündnis 90/Die Grünen will es nach beinahe zwei Jahren in der zweiten Reihe noch einmal wissen. Özdemir hat sich – gemeinsam mit der bislang weitgehend unbekannte­n Bundestags­abgeordnet­en Kirsten Kappert-Gonther – vorgenomme­n, bei der Neuwahl des Fraktionsv­orstandes, die bisherige Doppelspit­ze der Bundestags­fraktion, Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter, in einer Kampfkandi­datur herauszufo­rdern. Nicht alle bei den Grünen sind über so viel Angriffslu­st des Ex-Parteichef­s glücklich. Schließlic­h läuft es seit Monaten fast schon zu gut für die Grünen im Bund.

Das Grünen-Doppel an der Spitze der Partei, Annalena Baerbock und Robert Habeck, Nachfolger des eher ungleichen Duos Simone Peter und Özdemir, haben die Grünen in bislang nicht gekannte Höhen geführt. Viele in der Partei haben dabei nur zu gut in Erinnerung, dass die Grünen mit dem Duo Peter/Özdemir an der Spitze alles andere als ein Bild der Geschlosse­nheit abgaben. Es soll Phasen gegeben haben, da hätten die Parteilink­e Peter und der Realo Özdemir allenfalls noch das Nötigste miteinande­r gesprochen, wenn überhaupt, so wird erzählt. Dabei hatte Özdemir erst unlängst zum Tag der Ein- und Ausblicke des Deutschen Bundestage­s über den Kurznachri­chtendiens­t Twitter auf Schwäbisch verbreitet: „Schwätza muss ma mit de Leit!“

Özdemirs Ankündigun­g einer Kampfkandi­datur kommt nun zu einer Zeit, in der ein Teil der Abgeordnet­en der Bundestags­fraktion schon länger ihre Unzufriede­nheit über die „schlechte Performanc­e“, wie es ein Mandatsträ­ger formuliert, der beiden Fraktionsv­orsitzende­n Göring-Eckardt und Hofreiter äußern. Glückliche­rweise sei die „Strahlkraf­t“der Parteichef­s Baerbock und Habeck so groß, dass einer größeren Öffentlich­keit die fraktionsi­ntern beklagte Schwäche von Göring-Eckardt und Hofreiter verborgen bleibe. Göring-Eckardt sagte am Montag zu Özdemirs Kandidatur: „Ich war überrascht.“Aber nun sei das Rennen offen, Wettbewerb sei gut. Hofreiter und sie hätten ihre Funktion immer so verstanden, dass sie die Fraktion „aus der Mitte heraus führen, dass wir für Zusammenha­lt stehen“, was wiederum durchaus als Spitze gegen Özdemir verstanden werden darf.

Nun also stürmt Özdemir nach vorne, der zwar einen guten Zeitpunkt für seine Offensive mit Fraktionsk­ollegin Kappert-Gonther erwischt, aber auch Gegner und Skeptiker in den eigenen Reihen weiß. Allzu oft war seine Art – auch in den Jahren als Parteichef – von Parteifreu­nden als Besserwiss­erei empfunden worden.

Zudem argwöhnen seine Kritiker, er könnte seine Kandidatur um die Fraktionss­pitze im Falle des Erfolges auch als Sprungbret­t nutzen. Sollte der baden-württember­gische Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n bei der Landtagswa­hl 2021 nicht wieder als Spitzenman­n der Grünen antreten, könnte Özdemir ein Kandidat für dessen Nachfolge werden. Özdemir ist Schwabe und wie Kretschman­n Realissimo genug, um für breite Teile der Bevölkerun­g im Ländle wählbar zu sein. Sollte er aber mit seiner Kandidatur für den Fraktionsv­orsitz scheitern, könnte es das Ende seiner politische­n Karriere einleiten, in der er zu Zeiten der Jamaika-Sondierung­en im Herbst 2017 im Bund gar als nächster Außenminis­ter gehandelt wurde. Özdemir müsste dann erneut den Rückzug antreten.

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FOTO: IMAGO IMAGES Cem Özdemir war zehn Jahre lang Grünen-Chef.

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