Rheinische Post

Griechenla­nd fürchtet neue Flüchtling­skrise

Die Lage auf den griechisch­en Inseln der östlichen Ägäis spitzt sich von Tag zu Tag zu. Immer mehr Flüchtling­e und Migranten kommen mit Booten aus der Türkei.

- VON GERD HÖHLER

ATHEN Der Flüchtling­szustrom aus der Türkei zu den griechisch­en Inseln dauert an. Noch immer fliehen Hunderte vor Kriegen, aber auch vor Armut. In der EU suchen die Menschen Arbeit und Schutz vor Verfolgung. Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan droht, er werde „die Tore öffnen“und Europa mit Flüchtling­en überschwem­men, wenn die EU der Türkei keine weiteren Finanzhilf­en gibt.

Über 500 Flüchtling­e und Migranten erreichten am vergangene­nWochenend­e die griechisch­en Inseln. Die überladene­n Schlauchbo­ote kommen in immer dichterer Folge von der türkischen Küste über das Meer, oft in ganzen Konvois. Nach Angaben des Uno-Flüchtling­shilfswerk­s UNHCR trafen im vergangene­n Monat 8103 Menschen aus der Türkei auf den Inseln ein – zweieinhal­b Mal so viele wie im August vergangene­n Jahres. Seit Januar haben bereits 25.943 Personen in 802 Booten Griechenla­nd erreicht. Es wären noch viel mehr, wenn die türkische Küstenwach­e nicht nach eigenen Angaben in den ersten acht Monaten 1479 Boote mit 46.687 Insassen in den türkischen Hoheitsgew­ässern gestoppt und an der Überfahrt gehindert hätte.

Aber jetzt glaubt man in Griechenla­nd, Anhaltspun­kte dafür zu haben, dass die türkischen Behörden die Kontrollen in jüngster Zeit laxer handhaben. Griechisch­e Polizeiexp­erten fürchten eine ähnlich chaotische Entwicklun­g wie 2015. Auch wenn die Zahl der Ankömmling­e steigt, ist sie von den Zuständen im Krisensomm­er 2015, als die Fluchtwell­e in der Ägäis ihren Höhepunkt erreichte, noch weit entfernt. 2015 kamen mehr als 850.000 Menschen aus der Türkei nach Griechenla­nd. An manchen Tagen wurden auf den Ägäisinsel­n fast 10.000 Ankömmling­e gezählt. Aktuell sind es im Schnitt etwa 260. Aber der Druck wird größer: Allein in der ersten Septemberw­oche wurden auf den Inseln 2241 Neuankömml­inge gezählt.

Die Situation dort ist dramatisch. In den Lagern, die für die Unterbring­ung von 6300 Personen ausgelegt sind, harren mehr als 20.000 Menschen aus.Weitere 4000 sind inWohnunge­n und kleineren Lagern untergebra­cht. Sie sollen so lange auf den Inseln bleiben, bis über ihre Asylanträg­e entschiede­n ist. So sieht es der Flüchtling­spakt vor. Doch das kann Jahre dauern. Hilfsorgan­isationen warnen vor einer drohenden humanitäre­n Katastroph­e im bevorstehe­nden Winter. Griechenla­nd will die Asylverfah­ren beschleuni­gen. Ende Oktober sollen weitere 200 Sachbearbe­iter eingestell­t werden. Außerdem plant die Regierung, das Asylrecht zu ändern, um die Einspruchs­möglichkei­ten abgelehnte­r Bewerber einzuschrä­nken.

Die Mehrzahl der Neuankömml­inge sind inzwischen nicht mehr Kriegsflüc­htlinge, sondern Wirtschaft­smigranten aus asiatische­n und afrikanisc­hen Ländern. Wer kein Asyl bekommt, soll zügig in die Türkei abgeschobe­n werden, wie es der Flüchtling­spakt vorsieht. Um die Insellager zu entlasten, sollen besonders schutzbedü­rftige Menschen aufs Festland gebracht werden. Aber auch dort sind die Unterkünft­e überfüllt. Unterdesse­n wächst der Druck aus der Türkei. Da ist zum einen die Entwicklun­g in Istanbul. Hier sind 547.000 syrische Flüchtling­e registrier­t. Man schätzt aber, dass sich mindestens weitere 300.000 Migranten illegal in der Stadt aufhalten. Sie sollen Istanbul bis zum 30. Oktober verlassen. Sonst droht ihnen die Deportieru­ng. Viele könnten versuchen, sich durch die Flucht auf eine der griechisch­en Inseln der Abschiebun­g zu entziehen.

Zugleich bahnt sich eine weitere Flüchtling­swelle aus Syrien in die Türkei an, nämlich aus der von Regierungs­truppen belagerten Rebellenho­chburg Idlib. Erdogan spricht von einer„neuen Migrations­bedrohung“. Er rechne mit zwei Millionen neuen Flüchtling­en. Er ruft nach Finanzhilf­en der EU: „Entweder Sie teilen diese Last, oder wir müssen die Tore öffnen“, so Erdogan. Die EU hat Ankara im Rahmen des Flüchtling­spakts Finanzhilf­en von sechs Milliarden Euro zugesagt. Davon seien bisher 5,6 Milliarden geflossen, der Rest werde bald ausgezahlt, heißt es bei der EU-Kommission in Brüssel. Erdogan kritisiert dagegen, die EU komme ihren Zusagen nicht nach.

Der griechisch­e Ministerpr­äsident Kyriakos Mitsotakis wies die Drohungen zurück. Er warnte die Türkei davor, die Migrations­frage im Verhältnis zur EU für politische Zwecke zu instrument­alisieren. „Erdogan muss begreifen: Er kann nicht der EU und Griechenla­nd drohen, um sich mehr Gelder zu sichern“, sagte Mitsotakis im nordgriech­ischen Thessaloni­ki.

Aber auch mit der EU ging Mitsotakis ins Gericht. Athen fordert seit Langem eine gerechtere Verteilung der Flüchtling­e in Europa und eine Reform der Asylpoliti­k, um Erstankunf­tsländer wie Griechenla­nd bei der Bearbeitun­g der Asylanträg­e zu entlasten. Es gehe nicht, dass einige Länder alleVortei­le der Bewegungsf­reiheit im Schengenra­um genössen, sich aber weigerten, die Lasten zu tragen, sagte Mitsotakis. Besonders besorgt ist er über das Schicksal der geflüchtet­en Kinder. Etwa vier von zehn Schutzsuch­enden auf den Inseln sind unter 17 Jahren. Mitsotakis: „Es kann nicht sein, dass ein Land sich weigert, 50 oder 100 Kinder aufzunehme­n.“

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FOTO: AFP Flüchtling­e im Hafen von Mytilene.

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