„Vernunft wird heute oft dämonisiert“
Die Autorin spricht über die Erfolge von MeToo, Kindererziehung und sprachliche Bösartigkeiten von Menschen wie Donald Trump.
Begehren, Gewalt, Ressentiment: Die Publizistin Carolin Emcke beschäftigt sich mit dem, was für unsere Gesellschaft grundlegend ist. Oft sind das Themen, über die viele Menschen lieber schweigen. Die 52-Jährige, die auch als Reporterin und Philosophin arbeitete, wurde für ihre intellektuellen Erkundungen und Interventionen 2016 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt. Soeben veröffentlichte sie einen Band über die Bedingungen einer offenen Demokratie: In „Ja heißt ja und ...“fragt Emcke, wie sich Gewalt entlarven und verhindern lässt. Sie untersucht denWandel öffentlichen Sprechens und kommentiert die MeToo-Bewegung. Wir sprachen per Skype mit der in Berlin lebenden Emcke.
Gucken Sie noch „House Of Cards“mit Kevin Spacey?
CAROLIN EMCKE „House Of Cards“habe ich nie viel geschaut. Aber ich weiß natürlich, was Sie meinen: Ist man in der Lage, zwischenWerk und Person zu unterscheiden?
Können Sie das?
EMCKE Ich finde, das hängt sehr vom Werk ab. Nehmen wir das Beispiel James Levine. Der Dirigent, der mutmaßlich eineVielzahl von Musikern genötigt, belästigt und missbraucht hat. Da kann ich mir die Musik anhören und in der Musik selbst nichts entdecken, das auf Machtmissbrauch hindeutet. Aber beim Hören ist jetzt für mich immer dieses Wissen dabei. Ich würde mir moralisch gar nicht verbieten, diese Musik zu hören. Aber die Assoziation legt sich darüber. Ich kann also gar nicht so entspannt hören, wie ich es möchte. Ich fürchte, es hängt an jedem einzelnen Fall. BeiWoody-Allen-Filmen habe ich gar keine Probleme.
Aber wo verläuft der Unterschied? EMCKE Also, bei James Levine habe ich es ausprobiert: die Musik aufgelegt und probiert, was passiert. Bei Woody Allen habe ich das nicht.Vielleicht würde da dasselbe passieren. Nun habe ich aber bei James Levine auch viel konkretere Geschichten im Kopf. Hm. Nehmen wir Michael Jackson. Ich liebe Michael Jackson! Ich finde es super, dazu zu tanzen. Mögen Sie Michael Jackson?
Ja.
EMCKE Haben Sie dazu getanzt?
Gegroovt.
EMCKE Sie sind so der Rumsteh-Typ.
Der Groover.
EMCKE Verstehe. Bei Jackson gab es lange schon Gerüchte und auch gerichtliche Auseinandersetzungen. Ob ich es nicht hören wollte oder es nicht schlüssig fand, kann ich nicht sagen, es hat jedenfalls nichts verändert. Jahrelang nicht. Aber dann habe ich die Doku „Leaving Neverland“gesehen, und jetzt kann ich die Musik nicht mehr hören.
Was hat die Doku verändert? EMCKE Die Berichte der Zeugen waren erschütternd. Das konnte ich nicht mehr wegschieben. Ich fand die Beschreibung absolut glaubwürdig. Und: Es hat auch mit der Musik selbst zu tun. Die ist voller sexueller Anspielungen. Aber es ist keine politische Entscheidung, dass ich also denke: Ich darf nicht. Es geht einfach nicht mehr unbelastet.
Was rate ich meinem elf Jahre alten Sohn: Wie soll er sich vor Zudringlichkeiten schützen? Und: Wie erziehe ich ihn zu einer Person, die achtsam und empathisch ist? EMCKE Das eine ist, dass man überhaupt mit den eigenen Kindern so spricht, dass sie wissen, sie dürfen auch etwas erzählen. Sie dürfen erzählen, dass sie etwa in der Schule zu etwas gedrängt wurden, was sie nicht wollten. Man muss Kindern den Raum geben zu erzählen. Man muss die Sicherheit herstellen, etwas erzählen zu können, das ihnen vielleicht peinlich ist. Aber die Frage ist wahnsinnig schwer. Es ist schwierig, die Balance hinzubekommen, dass die Kinder mutig und froh in die Welt gehen. Man möchte ihnen nicht signalisieren, in der Welt warten überall Schrecklichkeiten.
Ich habe immer die Sorge, dass ich das Urvertrauen erschüttere. EMCKE Das finde ich auch schwer. Ich habe keine Kinder, aber ich würde versuchen, meinem Sohn Selbstbewusstsein zu vermitteln. Dass er „nein“sagen darf. Dass er nicht das machen muss, was andere Jungs behaupten, was männlich sei. Und dass man aufpasst, dass er andere nicht schlecht behandelt. Aber das gilt für Töchter auch.
Wie wichtig ist Sprache in diesem Prozess?
EMCKE Jedes Kind probiert Sprache aus, so wie es Gesten oder Körperlichkeiten ausprobiert. Das ist erstmal harmlos. Mir wäre wichtig, dass Kinder lernen, was alles normal sein kann. Dass jemand dick ist oder dünn, eine lange Nase hat oder eine kurze. Dass Verschiedenheit normal ist und niemand verspottet oder ausgegrenzt wird.
MeToo hat vor zwei Jahren begonnen. Hat die Bewegung etwas verändert?
EMCKE In bestimmten Orten und Gegenden und Branchen. Und es gibt trotzdem riesige Ungleichheiten. Für mein Buch habe ich mit Sozialarbeiterinnen und Anwältinnen gesprochen. Die haben mir von Missbrauch in der Landwirtschaft erzählt, in Altenheimen, in der Dienstleistungsbranche. Das wird oft vergessen: Je marginalisierter eine Person ist, desto schwieriger ist es, Missbrauch zur Sprache zur bringen.
MeToo wurde vorgeworfen, eine Bewegung der Privilegierten zu sein. EMCKE Strafrechtliche Vergehen stellen, auch wenn sie jemand Privilegiertem widerfahren, strafrechtlich relevante Vergehen dar. Das spricht nicht gegen die Thematisierung von Missbrauch. Es heißt nur, es muss noch weiter gehen. Viele Erntehelfer aus anderen Ländern wissen doch gar nicht, an wen sie sich wenden sollten, wenn es zu Missbrauch kommt. Ich glaube, dass man sich noch unbedingt um andere Kontexte, Orte und Personen kümmern muss.
Das breitbeinige Sprechen ist populär. Verpufft die Wirkung von MeToo nicht, wenn Trump und Johnson die Sprache hinter das von der Aufklärung Erreichte führen? EMCKE Wir erleben eine Renaissance des Ressentiments. Der Diskurs ist aufgeladen mit selbstbewussten, exhibitionistischen Bösartigkeiten. Da regiert oft derWunsch nach Niedertracht. Ob das jetzt Teil eines spezifisch-ideologischen Programms ist oder Narzissmus, sei mal dahingestellt. Was mich erschreckt: Es wird auch Rücksichtnahme auf andere diskreditiert als sei das Zensur, Höflichkeit verleumdet als „Politische Korrektheit“, Vernunft dämonisiert als „elitär“. Das ist grotesk: als müsse sich schämen, wer nach Gründen und Argumenten sucht. Dabei können wir als Gemeinschaft nur bestehen, wenn wir uns zu verständigen versuchen, jenseits der eigenen Vorurteile und Narzismen. Zu der Frage, ob Sprachkritik angesichts all dessen verpufft: Ja, klar.
Ihr Werk fußt aber auf Sprache. EMCKE Reine Sprachkritik reicht nicht aus. Deshalb geht es mir um Ideologiekritik. Und die kann man an sprachlichen Veränderungen festmachen, aber eben auch an Gewohnheiten, Praktiken und Ritualen. Wir brauchen rechtliche Instrumente, soziale und ökonomische.
Was meinen Sie damit?
EMCKE Es muss eine andere Form von Repräsentation und Partizipation geben. Nicht nur in Bezug auf Frauen. Man muss schauen, wer ausgeschlossen wird – und das korrigieren. Bei strafrechtlich relevanten Vergehen sind die Ermittlungsbehörden zuständig. Ich vertraue auf den Rechtsstaat: bei sexualisierter Gewalt, aber auch bei rassistischer, antisemitischer Gewalt, bei Hass-Verbrechen, dafür sind die Behörden zuständig. Für die Durchsetzung von Gleichheits-Ansprüchen braucht es gesetzgeberische Unterstützung: Damit Frauen und Männer tatsächlich gleich bezahlt werden. Aber ich glaube, bei allen Emanzipationsprozessen braucht es immer erstmal eine Beschreibungsebene, auf der nachvollziehbar wird, wie sich Ungleichheit artikuliert.
Wo sehen Sie Ihre Aufgabe als Publizistin?
EMCKE Praktiken anschauen, Gewohnheiten und Bildsprache, Blickregime, Sprache. Als Autorin muss ich diese Beobachtungen beschreiben und übersetzen, sodass sie für verschiedene Milieus und Generationen nachvollziehbar sind.
Wie ändert man etwas?
EMCKE Immer wieder mit Beispielen und Geschichten arbeiten. Es hilft, wenn man sich selber als unsicher zeigt. Ich versuche, eigenes Versagen oder Scham mitzuerzählen. Ich habe erfahren, dass es andere veranlasst, von sich zu erzählen.
Sind Sie zuversichtlich?
EMCKE Ja. Aber ich habe auch kein pessimistisches Gen.