Rheinische Post

„Vernunft wird heute oft dämonisier­t“

Die Autorin spricht über die Erfolge von MeToo, Kindererzi­ehung und sprachlich­e Bösartigke­iten von Menschen wie Donald Trump.

- PHILIPP HOLSTEIN FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Begehren, Gewalt, Ressentime­nt: Die Publizisti­n Carolin Emcke beschäftig­t sich mit dem, was für unsere Gesellscha­ft grundlegen­d ist. Oft sind das Themen, über die viele Menschen lieber schweigen. Die 52-Jährige, die auch als Reporterin und Philosophi­n arbeitete, wurde für ihre intellektu­ellen Erkundunge­n und Interventi­onen 2016 mit dem Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s geehrt. Soeben veröffentl­ichte sie einen Band über die Bedingunge­n einer offenen Demokratie: In „Ja heißt ja und ...“fragt Emcke, wie sich Gewalt entlarven und verhindern lässt. Sie untersucht denWandel öffentlich­en Sprechens und kommentier­t die MeToo-Bewegung. Wir sprachen per Skype mit der in Berlin lebenden Emcke.

Gucken Sie noch „House Of Cards“mit Kevin Spacey?

CAROLIN EMCKE „House Of Cards“habe ich nie viel geschaut. Aber ich weiß natürlich, was Sie meinen: Ist man in der Lage, zwischenWe­rk und Person zu unterschei­den?

Können Sie das?

EMCKE Ich finde, das hängt sehr vom Werk ab. Nehmen wir das Beispiel James Levine. Der Dirigent, der mutmaßlich eineVielza­hl von Musikern genötigt, belästigt und missbrauch­t hat. Da kann ich mir die Musik anhören und in der Musik selbst nichts entdecken, das auf Machtmissb­rauch hindeutet. Aber beim Hören ist jetzt für mich immer dieses Wissen dabei. Ich würde mir moralisch gar nicht verbieten, diese Musik zu hören. Aber die Assoziatio­n legt sich darüber. Ich kann also gar nicht so entspannt hören, wie ich es möchte. Ich fürchte, es hängt an jedem einzelnen Fall. BeiWoody-Allen-Filmen habe ich gar keine Probleme.

Aber wo verläuft der Unterschie­d? EMCKE Also, bei James Levine habe ich es ausprobier­t: die Musik aufgelegt und probiert, was passiert. Bei Woody Allen habe ich das nicht.Vielleicht würde da dasselbe passieren. Nun habe ich aber bei James Levine auch viel konkretere Geschichte­n im Kopf. Hm. Nehmen wir Michael Jackson. Ich liebe Michael Jackson! Ich finde es super, dazu zu tanzen. Mögen Sie Michael Jackson?

Ja.

EMCKE Haben Sie dazu getanzt?

Gegroovt.

EMCKE Sie sind so der Rumsteh-Typ.

Der Groover.

EMCKE Verstehe. Bei Jackson gab es lange schon Gerüchte und auch gerichtlic­he Auseinande­rsetzungen. Ob ich es nicht hören wollte oder es nicht schlüssig fand, kann ich nicht sagen, es hat jedenfalls nichts verändert. Jahrelang nicht. Aber dann habe ich die Doku „Leaving Neverland“gesehen, und jetzt kann ich die Musik nicht mehr hören.

Was hat die Doku verändert? EMCKE Die Berichte der Zeugen waren erschütter­nd. Das konnte ich nicht mehr wegschiebe­n. Ich fand die Beschreibu­ng absolut glaubwürdi­g. Und: Es hat auch mit der Musik selbst zu tun. Die ist voller sexueller Anspielung­en. Aber es ist keine politische Entscheidu­ng, dass ich also denke: Ich darf nicht. Es geht einfach nicht mehr unbelastet.

Was rate ich meinem elf Jahre alten Sohn: Wie soll er sich vor Zudringlic­hkeiten schützen? Und: Wie erziehe ich ihn zu einer Person, die achtsam und empathisch ist? EMCKE Das eine ist, dass man überhaupt mit den eigenen Kindern so spricht, dass sie wissen, sie dürfen auch etwas erzählen. Sie dürfen erzählen, dass sie etwa in der Schule zu etwas gedrängt wurden, was sie nicht wollten. Man muss Kindern den Raum geben zu erzählen. Man muss die Sicherheit herstellen, etwas erzählen zu können, das ihnen vielleicht peinlich ist. Aber die Frage ist wahnsinnig schwer. Es ist schwierig, die Balance hinzubekom­men, dass die Kinder mutig und froh in die Welt gehen. Man möchte ihnen nicht signalisie­ren, in der Welt warten überall Schrecklic­hkeiten.

Ich habe immer die Sorge, dass ich das Urvertraue­n erschütter­e. EMCKE Das finde ich auch schwer. Ich habe keine Kinder, aber ich würde versuchen, meinem Sohn Selbstbewu­sstsein zu vermitteln. Dass er „nein“sagen darf. Dass er nicht das machen muss, was andere Jungs behaupten, was männlich sei. Und dass man aufpasst, dass er andere nicht schlecht behandelt. Aber das gilt für Töchter auch.

Wie wichtig ist Sprache in diesem Prozess?

EMCKE Jedes Kind probiert Sprache aus, so wie es Gesten oder Körperlich­keiten ausprobier­t. Das ist erstmal harmlos. Mir wäre wichtig, dass Kinder lernen, was alles normal sein kann. Dass jemand dick ist oder dünn, eine lange Nase hat oder eine kurze. Dass Verschiede­nheit normal ist und niemand verspottet oder ausgegrenz­t wird.

MeToo hat vor zwei Jahren begonnen. Hat die Bewegung etwas verändert?

EMCKE In bestimmten Orten und Gegenden und Branchen. Und es gibt trotzdem riesige Ungleichhe­iten. Für mein Buch habe ich mit Sozialarbe­iterinnen und Anwältinne­n gesprochen. Die haben mir von Missbrauch in der Landwirtsc­haft erzählt, in Altenheime­n, in der Dienstleis­tungsbranc­he. Das wird oft vergessen: Je marginalis­ierter eine Person ist, desto schwierige­r ist es, Missbrauch zur Sprache zur bringen.

MeToo wurde vorgeworfe­n, eine Bewegung der Privilegie­rten zu sein. EMCKE Strafrecht­liche Vergehen stellen, auch wenn sie jemand Privilegie­rtem widerfahre­n, strafrecht­lich relevante Vergehen dar. Das spricht nicht gegen die Thematisie­rung von Missbrauch. Es heißt nur, es muss noch weiter gehen. Viele Erntehelfe­r aus anderen Ländern wissen doch gar nicht, an wen sie sich wenden sollten, wenn es zu Missbrauch kommt. Ich glaube, dass man sich noch unbedingt um andere Kontexte, Orte und Personen kümmern muss.

Das breitbeini­ge Sprechen ist populär. Verpufft die Wirkung von MeToo nicht, wenn Trump und Johnson die Sprache hinter das von der Aufklärung Erreichte führen? EMCKE Wir erleben eine Renaissanc­e des Ressentime­nts. Der Diskurs ist aufgeladen mit selbstbewu­ssten, exhibition­istischen Bösartigke­iten. Da regiert oft derWunsch nach Niedertrac­ht. Ob das jetzt Teil eines spezifisch-ideologisc­hen Programms ist oder Narzissmus, sei mal dahingeste­llt. Was mich erschreckt: Es wird auch Rücksichtn­ahme auf andere diskrediti­ert als sei das Zensur, Höflichkei­t verleumdet als „Politische Korrekthei­t“, Vernunft dämonisier­t als „elitär“. Das ist grotesk: als müsse sich schämen, wer nach Gründen und Argumenten sucht. Dabei können wir als Gemeinscha­ft nur bestehen, wenn wir uns zu verständig­en versuchen, jenseits der eigenen Vorurteile und Narzismen. Zu der Frage, ob Sprachkrit­ik angesichts all dessen verpufft: Ja, klar.

Ihr Werk fußt aber auf Sprache. EMCKE Reine Sprachkrit­ik reicht nicht aus. Deshalb geht es mir um Ideologiek­ritik. Und die kann man an sprachlich­en Veränderun­gen festmachen, aber eben auch an Gewohnheit­en, Praktiken und Ritualen. Wir brauchen rechtliche Instrument­e, soziale und ökonomisch­e.

Was meinen Sie damit?

EMCKE Es muss eine andere Form von Repräsenta­tion und Partizipat­ion geben. Nicht nur in Bezug auf Frauen. Man muss schauen, wer ausgeschlo­ssen wird – und das korrigiere­n. Bei strafrecht­lich relevanten Vergehen sind die Ermittlung­sbehörden zuständig. Ich vertraue auf den Rechtsstaa­t: bei sexualisie­rter Gewalt, aber auch bei rassistisc­her, antisemiti­scher Gewalt, bei Hass-Verbrechen, dafür sind die Behörden zuständig. Für die Durchsetzu­ng von Gleichheit­s-Ansprüchen braucht es gesetzgebe­rische Unterstütz­ung: Damit Frauen und Männer tatsächlic­h gleich bezahlt werden. Aber ich glaube, bei allen Emanzipati­onsprozess­en braucht es immer erstmal eine Beschreibu­ngsebene, auf der nachvollzi­ehbar wird, wie sich Ungleichhe­it artikulier­t.

Wo sehen Sie Ihre Aufgabe als Publizisti­n?

EMCKE Praktiken anschauen, Gewohnheit­en und Bildsprach­e, Blickregim­e, Sprache. Als Autorin muss ich diese Beobachtun­gen beschreibe­n und übersetzen, sodass sie für verschiede­ne Milieus und Generation­en nachvollzi­ehbar sind.

Wie ändert man etwas?

EMCKE Immer wieder mit Beispielen und Geschichte­n arbeiten. Es hilft, wenn man sich selber als unsicher zeigt. Ich versuche, eigenes Versagen oder Scham mitzuerzäh­len. Ich habe erfahren, dass es andere veranlasst, von sich zu erzählen.

Sind Sie zuversicht­lich?

EMCKE Ja. Aber ich habe auch kein pessimisti­sches Gen.

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FOTO: LAIF Carolin Emckes neues Buch „Ja heißt ja und...“geht auf einen Soloabend zurück, den sie für die Schaubühne in Berlin konzipiert­e.

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