Rheinische Post

„Wir weichen keinen Schritt zurück“

Vor vier Jahren zog ein regional bekannter Nazi nach Hoerstgen, einem Stadtteil von Kamp-Lintfort. Seitdem herrscht in dem Dorf ein Klima der Angst. Sylvia Joos wohnt direkt neben dem Rechtsradi­kalen. Die 69-Jährige lässt sich nicht einschücht­ern.

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

KAMP-LINTFORTKe­ine 50 Meter trennen Sylvia Joos' Wohnzimmer von dem Nachbar-Grundstück, das eine Mauer umgibt, die in den Farben der ehemaligen deutschen Reichsflag­ge angestrich­en ist: schwarzwei­ß-rot. Nur ihr Vorgarten und die schmale Dorfstraße liegen zwischen der 69-Jährigen und ihrem rechtsradi­kalen Nachbarn Kevin G. und dessen Nazi-Freunden, die ihn regelmäßig besuchen und von denen sich die ehemalige Lehrerin für Deutsch und Biologie bedroht fühlt. „Die versuchen, mich und meinen Mann mürbe zu machen“, sagt sie. Erst vor wenigen Tagen sei wieder ein „Trupp von vier Leuten“vor ihrem Haus aufmarschi­ert. „Sie sind von G.s Grundstück aus lärmend mehrfach an unserem Haus vorbeigela­ufen“, sagt sie.

Szenen wie diese passieren immer wieder. Und das seit Jahren. Im Kamp-Lintforter Stadtteil Hoerstgen werden Anwohner von Nazis eingeschüc­htert. Sie erhalten Drohungen. Reifen werden zerstochen, Hauswände beschmiert, rechtsextr­eme Parolen werden in aller Öffentlich­keit gegrölt.

Begonnen hat der Nazispuk in dem 1000-Einwohner-Dorf vor vier Jahren. Zum Jahreswech­sel 2015/16 erwirbt der regional bekannte Nazi G. das Grundstück gegenüber der Familie Joos. Zunächst bekommt niemand im Dorf etwas davon mit; keiner weiß, wer die neuen Nachbarn sind und wie sie heißen. Das ändert sich, als G. mit Renovierun­gsarbeiten beginnt und alte Dachrinnen im Garten der Joos entsorgt. „Wir haben ihn fünf- oder sechsmal ermahnt, das nicht zu tun, und uns gefragt: Was sind das für komische Leute, die so etwas tun?“, sagt die 69-Jährige. Vor dem Haus ihrer neuen Nachbarn steht zu der Zeit besonders häufig ein Umzugswage­n eines Möbelunter­nehmens aus Moers. Die Firma gehört einer Frau G., findet Joos im Internet heraus. Der Name sagt ihr nichts. Sie muss ihn googeln. Sofort werden Berichte über den bekannten Nazi G. aufgeliste­t. „Da wusste ich, dass wir ein Problem haben.“

Sylvia Joos wohnt seit 40 Jahren im beschaulic­hen Hoerstgen, und das gerne. Sie schätzt das Dorfleben, die rege evangelisc­he Gemeinde und die Ruhe. Nur die Nazis trüben das Idyll. Die 69-Jährige sitzt an diesem Morgen mit ihrem Mann am Esstisch; sie trinken Kaffee und gucken aus dem Fenster auf G.'s Haus. Dort rührt sich nichts. Wenige Tage ist es her, dass Joos all ihren Mut zusammenna­hm und auf der Demonstrat­ion gegen Rechtsradi­kalismus in Kamp-Lintforts Innenstadt auf das Naziproble­m in ihrem Dorf aufmerksam gemacht hat. „Eigentlich war das nicht geplant. Ich stand auf der Bühne und sollte plötzlich zu den Leuten vor mir sprechen“, sagt sie. Die Solidaritä­t und Unterstütz­ung, die sie dort erfahren hat, wünscht sie sich auch im Alltag; denn dann steht sie in der Regel allein gegen die Nazis vor ihrer Haustür. Für sie bedeutet das ein Leben in ständiger Angst.

Dominik Schumacher von der mobilen Beratungss­telle gegen Rechtsextr­emismus kennt die G.s und die Angst der Menschen in Hoerstgen. Erst vor wenigen Tagen ist er selbst in dem Dorf gewesen. „Genauso wie die G.s agieren Nazis im ländlichen Raum“, sagt er. Sie würden Andersdenk­ende einschücht­ern. Seine Beratungss­telle hat beobachtet, dass Rechtsextr­eme eines gewissen Alters sich in solchen Gegenden familiär niederließ­en – häufig dann, wenn sie eine eigene Familie haben. „Sie wollen sich mit ihrer Gesinnung ins Dorfleben einbringen“, erklärt er.

Das versucht auch G. Er hat die sogenannte­Volksgemei­nschaft Niederrhei­n gegründet, deren Mitglieder sich als Wohltäter in der Öffentlich­keit inszeniere­n. Für die Beratungss­telle ist diese Gemeinscha­ft nichts anderes als eine klassische rechtsextr­eme Kameradsch­aft mit typisch rechtsradi­kalem Vorgehen, weil sie zum Beispiel Spenden sammelt für deutsche Bedürftige.„Damit werden deutsche gegen ausländisc­he Bedürftige ausgespiel­t. So arbeiten Rechtsextr­eme“, erklärt Schumacher. Er rät den betroffene­n Nachbarn, zusammenzu­halten, mutig zu sein und füreinande­r einzustehe­n. „Man muss geeint sein und den Rechtsextr­emen so entgegentr­eten. Denn die legen es darauf an, sich Einzelne auszusuche­n, um sie zu bedrohen“, erklärt er. Das dürfe man nicht zulassen.

Doch die rechte Drohkuliss­e zeigt Wirkung. Nur wenige Häuser stehen an der schmalen Dorfstraße. Das Haus der Joos' liegt in der Mitte. Oberhalb von ihnen gibt es einen Nachbarn, der die Joos im Kampf gegen die Nazis unterstütz­t. „Die anderen haben Angst“, sagt die 69-Jährige. Ein Ehepaar lehne jeglichen Protest ab, sie seien dafür zu alt, sagt Joos. „Über eine jüngere Nachbarin habe ich erfahren, dass sie gesagt haben soll: Sag mal besser nichts. Sonst geht es ihnen wie den Joos'.“

Joos selbst erinnert sich an eine Nacht, in der ein schwerer Backstein durch die Terrassens­cheibe in ihr Esszimmer geworfen wurde. Kurz zuvor habe sie noch am Esstisch mit ihrem Mann einen Tee getrunken, um sich zu beruhigen, weil ein Mann wie ein Verrückter an ihrer Gartentür gerüttelt hatte. Joos hatte sich zuvor über den Lärm beschwert. „Wir lagen gerade wieder im Bett, als wir einen lauten Knall hörten“, sagt sie. „Wären wir noch unten gewesen, hätte uns der Stein treffen können.“Die Polizei stuft den Backsteinw­urf nicht als Anschlag auf das Leben der beiden ein, weil die Vorhänge geschlosse­n gewesen waren. Wegziehen kommt für sie und ihren Mann nicht in Frage. „Wir weichen keinen Schritt zurück“, sagt sie. Nur einmal in den vier Jahren hat sie daran gedacht, alles hier aufzugeben. „Wir standen völlig allein da im Kampf gegen die Rechten. Die anderen haben sich alle weggeduckt“, sagt sie. Ihr Mann hat sie überredet, zu bleiben. „Er sagte mir: Sylvia, wir schaffen das.“

Auch wenn Kamp-Lintfort derzeit wegen Rechtsradi­kalismus bundesweit in den Schlagzeil­en steht, ist die ehemalige Bergbausta­dt alles andere als braun. Vor einer Woche sind Hunderte Kamp-Lintforter gegen Rechtsradi­kalismus auf die Straße gegangen. Die Kommune steht für Toleranz und Weltoffenh­eit; viele junge Menschen unterschie­dlicher Herkunft studieren an der örtlichen Fachhochsc­hule, im April öffnet die Landesgart­enschau auf dem ehemaligen Zechengelä­nde.

Als im vergangene­n Jahr die Kleinstpar­tei „Die Rechte“für die Europawahl­en in der Stadt plakatiert, entscheide­t Bürgermeis­ter Christoph Landscheid­t, die Plakate abreißen zu lassen. Seitdem setzen ihm die Rechtsextr­emen zu; so sehr, dass der SPD-Politiker einen GroßenWaff­enschein beantragt hatte und jetzt Personensc­hutz erhält. Seinen Antrag auf denWaffens­chein vor dem Verwaltung­sgericht hat er nun zurückgezo­gen.

Das Bedürfnis nach Schutz kann Syliva Joos nachvollzi­ehen. Sie selbst hat den kleinenWaf­fenschein beantragt; hat immer Pfefferspr­ay bei sich, wenn sie das Haus verlässt. „Wenn es dunkel ist, habe ich das Spray immer in der Hand, damit ich schnell reagieren kann“, sagt sie.

G. kommt aus Moers. Er wächst in Meerbeck auf, einem von Ausländern geprägten Stadtteil. Dort eckt er an. Mit 13 rutscht er in die rechtsradi­kale Szene ab. Schnell macht er sich einen Namen, baut die rechtsextr­eme Kameradsch­aft Moers-Rheinberg auf. Silvester 2000 bricht er mit anderen in eine Moschee ein und zerstört die Einrichtun­g. G. verheimlic­ht seine Gesinnung nicht – bis heute. Polizei und Verfassung­sschutz kennen und beobachten ihn. In der Szene wird er durchaus kritisch gesehen, zum Teil sogar gemieden. Einige werfen ihm vor, mit dem Verfassung­sschutz zusammenge­arbeitet zu haben.

G. ist mehrfach vorbestraf­t – unter anderem wegenVolks­verhetzung und Körperverl­etzung. Vor Gericht hat er regelmäßig Besserung gelobt, wie zum Beispiel im November 2006, als er infolge einer Beteiligun­g an einer Schlägerei eine Bewährungs­strafe erhält. Damals beteuert er, er gehöre nicht mehr zur rechtsextr­emen Szene. Er veranstalt­e keine einschlägi­gen Partys mehr, initiiere keine Flugblatt-Aktionen und nehme auch nicht mehr an einschlägi­gen Demos teil. Die Richterin wertete das damals als gutes Zeichen und sagte: „Offensicht­lich denken Sie jetzt erstmals über sich selbst nach!“

Was dabei herausgeko­mmen ist, bekommen die Hoerstgene­r seit vier Jahren zu spüren. Regelmäßig finden auf G's Grundstück Feiern mit Rechtsextr­emen statt, die demokratie­feindliche Lieder grölen und verbotene Stücke spielen. Joos will das nicht hinnehmen. Sie denkt in solchen Momenten auch an ihre Großeltern zurück. Häufig habe sie diese gefragt, wieso deren Generation Hitler nicht verhindert habe? Warum niemand die Gefahr erkannt habe? Joos sieht heute durchaus Parallelen zu damals.„Auch damals begann es schleichen­d, haben Leute weggeguckt, sich einschücht­ern lassen. Erst waren es wenige, und dann wurden es immer mehr, die Angst hatten und nichts taten“, sagt sie. „Und dann war es auf einmal zu spät.“

Seit Mai 2016 führt Sylvia Joos eine Liste, in der sie besondere Vorkommnis­se im Zusammenha­ng mit ihrem rechtsextr­emen Nachbarn aufschreib­t. 51 Punkte sind mittlerwei­le aufgeführt. Am 9. August 2016 steht dort: „Drohungen gegen uns: Seid ihr lebensmüde, letzte Warnung, machen euch das Leben zur Hölle.“Am 20. Juli 2019 hält Joos fest: „Ab 16 Uhr Feier mit rechtsradi­kaler Hetze gegen den Pfarrer und uns.“Am 25. Mai 2019 lautet der Eintrag: „Auto wurden Vorder- und Hinterreif­en zerstochen.“Ihr letzter Eintrag stammt von Montagaben­d, nachdem Nazis vor ihrem Haus aufmarschi­ert sind. Die Notiz lautet: „Die Einschücht­erungstakt­ik wird fortgesetz­t.“

„Drohungen gegen uns: Seid ihr lebensmüde, letzte Warnung, machen euch das Leben zur Hölle“Notiz von Sylvia Joos

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FOTO: NORBERT PRÜMEN Sylvia Joos ist immer in Sorge, wenn sie durch ihren Heimatort Hoerstgen geht.

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