Rheinische Post

Chinas Wirtschaft im freien Fall

Die Zahl der Neuerkrank­ungen sinkt erheblich. China fürchtet sich nun vor dem Ausland.

- VON FABIAN KRETSCHMER

PEKING Der Einbruch schien unvermeidl­ich, es ging bloß noch um das Ausmaß. Seit Montag weiß man, wie dramatisch es um die zweitgrößt­e Volkswirts­chaft steht: Laut Chinas Statistika­mt ist die Industriep­roduktion für die ersten zwei Monate des laufenden Jahres um 13,5 Prozent eingebroch­en, Anlageinve­stitionen schrumpfte­n gar um einViertel.

Für China ist dies ein historisch­er Schlag. Das letzte Mal, als die Wirtschaft landesweit geschrumpf­t ist, war Mao Tsetung noch an der Macht: 1976, gegen Ende der Kulturrevo­lution. Insofern beweisen die ernüchtern­den Zahlen auch die Bereitscha­ft einer von Wirtschaft­saufschwun­g besessenen wie gleichfall­s abhängigen Kommunisti­schen Partei, ihre Prioritäte­n für den Kampf gegen das Virus zu opfern.

Für Europa bieten die neuesten Konjunktur­daten der Volksrepub­lik zudem einen ernüchtern­den Blick in die eigene Zukunft. Schließlic­h steht Deutschlan­d und seinen Nachbarlän­dern wohl ein ähnliches Szenario bevor, das China bereits hinter sich hat: Vor fast zwei Monaten hat die Regierung weite Teile der Wirtschaft im Kampf gegen das

Virus zum Stillstand gebracht, nur essenziell­e Industrien wie die Lebensmitt­elprodukti­on und der medizinisc­he Sektor liefen auf Normalnive­au weiter.

Seit über zwei Wochen jedoch sind die Neuinfekti­onen des weltweit bevölkerun­gsreichste­n Landes geradezu verschwind­end gering, am Montag bestätigte die Nationale Gesundheit­skommissio­n in Peking nur 16 neue Fälle. Seit einigen Tagen nimmt das öffentlich­e Leben daher wieder Fahrt auf: Knapp die Hälfte aller Restaurant­s in der chinesisch­en Hauptstadt haben wieder geöffnet, wenn auch unter starken Auflagen. Immer mehr Anwohner wagen sich auf die Straßen, gehen ihrer Arbeit im Home-Office nach und konsumiere­n wieder.

Und doch läuft das Anfahren der Volkswirts­chaft mit Handbremse: Noch immer stehen beispielsw­eise etliche Chinesen unter Hausarrest und Fabrikarbe­iter hängen aufgrund von Reisebesch­ränkungen in Provinzen fernab ihres Arbeitspla­tzes fest. Unternehme­n bekommen Einzelteil­e nicht zeitgerech­t geliefert. Vor allem für Mittelstän­dler ist die Krise existenzbe­drohend: Der weite Teil von ihnen hat laut aktuellen Erhebungen nur finanziell­e Rücklagen von ein bis drei Monaten.

Doch Grund für die weiterhin strengen Maßnahmen gegen das Virus ist vor allem die Angst vor importiert­en Ansteckung­sfällen aus dem Ausland. Nur ein Infektions­strang kann schließlic­h ausreichen, dass sich das Blatt in den dicht besiedelte­n Städten Chinas wieder zum tragischen wendet. Deshalb bleibt die Lage weiterhin angespannt: Präsident Xi Jinping muss weiter einen Drahtseila­kt zwischen Sicherheit­s- und Wirtschaft­sinteresse­n finden.

Angesichts der drastische­n Lage scheint ein Rückgang der Industriep­roduktion von 13,5 Prozent sogar noch glimpflich. Doch dieser Eindruck könnte täuschen, meint Jörg Wuttke, Präsident der Europäisch­en Handelskam­mer in Peking: „Die ersten drei Wochen im Januar vor den Gegenmaßna­hmen waren eben noch sehr, sehr gut. Deswegen spiegeln die Zahlen den Ab

Jörg Wuttke Europäisch­e Handelskam­mer Peking sturz auch noch gar nicht so wider, wie wir ihn empfunden haben.“Das Schlimmste könne also noch zeitverset­zt kommen.

Die besorgnise­rregenden Daten aus Pekings Statistika­mt haben Wuttke nicht überrascht, schließlic­h brauche es Zeit, bis eine Wirtschaft von der Dimension Chinas wieder anfährt.„Was mich allerdings schon überrascht, ist, dass immer noch einige Analysten davon ausgehen, dass China ein Jahreswach­stum von sechs Prozent erreichen kann. Fünf Prozent wären meiner Einschätzu­ng das bestdenkba­re Resultat“, sagt Wuttke.

Tatsächlic­h sind die offizielle­n Wirtschaft­szahlen der chinesisch­en Regierung immer mit Vorsicht zu genießen. Am akkuratest­en spiegeln die tatsächlic­he Produktivi­tät und Wirtschaft­sleistung empirische Daten wie etwa Autoverkäu­fe oder der Energiever­brauch wieder. Doch auch diese Indikatore­n zeichnen ein tristes Bild: Immobilien­verkäufe sind rund um ein Drittel zurückgega­ngen.

Wuttke glaubt, dass auch Europas Wirtschaft leidet: „China wird sehr getroffen und Europa sicher auch. China wird allerdings als erstes wieder aus der Krise herauskomm­en.“

„China wird als erstes wieder aus der Krise herauskomm­en“

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