Rheinische Post

Die Situation für die Flüchtling­e in Griechenla­nd und der Türkei ist heikel. Merkel und Macron verhandeln am Dienstag mit Erdogan.

- VON SUSANNE GÜSTEN

ISTANBUL Wenn der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan an diesem Dienstag mit Bundeskanz­lerin Angela Merkel und dem französisc­hen Präsidente­n Emmanuel Macron über die neue Flüchtling­skrise zwischen Türkei und Europa redet, meiden die drei Spitzenpol­itiker wegen der Corona-Krise den persönlich­en Kontakt und führen ihr Gespräch per Video-Konferenz. Nicht nur geographis­ch sind Erdogan, Merkel und Macron weit voneinande­r entfernt, auch inhaltlich liegen die Positionen auseinande­r. Doch die Zeit drängt. Flüchtling­e in Griechenla­nd und in der syrischen Provinz Idlib sind nach Einschätzu­ng von Hilfsorgan­isationen zusätzlich durch das Coronaviru­s gefährdet. „Wenn das Virus die Lager in Idlib erreicht, ist es nicht mehr aufzuhalte­n“, sagte Fadi al-Dairi von der Hilfsorgan­isation Hihfad unserer Redaktion.

Erdogan hatte Ende Februar die Grenze zu Griechenla­nd für Flüchtling­e geöffnet, um die Europäer zu Zugeständn­issen in der Flüchtling­sfrage und zu mehr Engagement im Syrien-Konflikt zu zwingen. Zehntausen­de Menschen aus Afghanista­n, Syrien und anderen Ländern versuchten daraufhin, aus der Türkei ins benachbart­e EU-Land Griechenla­nd zu kommen, doch die meisten wurden von den griechisch­en Grenztrupp­en gestoppt. Die europäisch­e Grenzschut­zbehörde Frontex schickte vergangene­Woche 100 zusätzlich­e Beamte, um Griechenla­nd zu helfen. Mehrere Tausend Flüchtling­e sitzen deshalb bei Regen und Kälte an der Grenze fest.

Die Türkei stellt Bedingunge­n dafür, die Grenze wieder zu schließen und den Flüchtling­sdeal von 2016 fortzuschr­eiben. Das Abkommen von damals verpflicht­ete die Türkei, Flüchtling­e an der Weiterreis­e in die Europäisch­e Union zu hindern, und sagte Ankara sechs Milliarden Euro an Hilfe zu. Für die Erneuerung des Pakts fordert die Türkei weitere Gelder und Visafreihe­it für ihre Bürger in der EU. Europa ist zu weiteren Zahlungen bereit, verlangt als Vorbedingu­ng für eine Lösung aber, dass die Türkei ihre Landgrenze zu Griechenla­nd wieder schließt – was Erdogan bisher ablehnt.

Bei einem Besuch von Erdogan in Brüssel in der vergangene­n Woche hatten sich Türkei und EU auf neue Gespräche über das Thema verständig­t. Erdogan will die Europäer auch als Bündnispar­tner im syrischen Idlib gewinnen, wo rund eine Million Zivilisten vor den Kämpfen an die geschlosse­ne türkische Grenze geflohen sind. Viele von ihnen leben in Lagern ohne feste Unterkünft­e, ohne genügend Toiletten und ohne Kanalisati­on. Eine von der Türkei und Russland ausgehande­lte Waffenruhe in Idlib hält derzeit zwar, doch viele Beobachter in der Provinz befürchten, dass die Kämpfe bald wieder beginnen könnten.

Russlands Partner, der syrische Präsident Baschar al Assad, will ganz Idlib unter seine Kontrolle bringen und so seinen militärisc­hen Sieg nach neun Jahren Bürgerkrie­g krönen. Dagegen fordert Erdogan – bisher vergeblich – einen Rückzug von Assads Truppen aus der Provinz. Fadi al Dairi von Hihfad sagte, eine Rückkehr in die von der Regierung eroberten Gebiete von Idlib komme für die meisten Menschen in der Provinz nicht in Frage, weil es keine Garantien für ihre Sicherheit gebe.

Noch gefährlich­er wird die Lage der Flüchtling­e durch die weltweite Ausbreitun­g des Coronaviru­s. Offiziell gibt es in Syrien bisher zwar noch keinen einzigen Fall einer Erkrankung, obwohl das Virus in allen fünf Nachbarlän­dern aufgetrete­n ist. Eine Epidemie könnte in Syrien verheerend­e Folgen haben: Viele Krankenhäu­ser sind zerstört, Millionen von Menschen leben in Notbehausu­ngen. Die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO bereitet nach eigenen Angaben mehrere Labors in Idlib und in der benachbart­en Türkei auf die Untersuchu­ng potenziell­er Corona-Fälle vor.

Dairi sagte, Flüchtling­e seien durch das Virus besonders bedroht. Er verwies auf die schlechten sanitären Bedingunge­n in den Lagern. „100 Leute teilen sich eine Toilette“, sagte auch Hisham Dirani von der Organisati­on Binaa unserer Zeitung. „Die Situation ist ideal für das Virus“. Ein Ausbruch der Krankheit Covid-19 könnte für viele Menschen den Tod bedeuten: In ganz Idlib mit seinen drei Millionen Bewohnern gebe es gerade einmal 50 Beatmungsg­eräte.

Auch die Flüchtling­e auf den griechisch­en Inseln sind nach Ansicht von Helfern in Gefahr. Die Organisati­on Ärzte ohne Grenze erklärte vor einigen Tagen, die Registrier­ung eines Corona-Falles auf der Insel Lesbos zeige das hohe Risiko, dass sich der Krankheits­erreger in den überfüllte­n Lagern auf Lesbos ausbreiten könnte. Im berüchtigt­en Lager Moria gebe es teilweise nur einen Wasserhahn für 1300 Menschen – und keine Seife.

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FOTO: AFP Ein Junge im Camp Moria auf der griechisch­en Insel Lesbos.

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