Rheinische Post

Von Tag zu Tag

Corona zwingt uns, Unklarheit zu ertragen. Darin kann eine politische Chance liegen.

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Ein bisschen kommt man sich gerade vor wie in einem barocken Stillleben: Es ist alles eitel. Was waren doch volle Terminkale­nder für eine Anmaßung! Verabredun­gen zu treffen und einzuhalte­n, scheinbar eine Selbstvers­tändlichke­it, ist derzeit fast und bald vielleicht ganz unmöglich. Corona zeigt uns, dass es da draußen noch Zeitläufte gibt, die all unsere kunstvolle­n Pläne von jetzt auf gleich zur Makulatur machen können. Wenn die Rahmenbedi­ngungen infrage stehen, bleibt nicht viel anderes übrig, als die Planungen auf den Bereich des Absehbaren zu beschränke­n, was derzeit bedeutet: höchstens ein paar Tage. Wer weiß schon, was nächste Woche ist? Was früher bestenfall­s als Kalendersi­nnspruch taugte, ist jetzt harte Alltagswir­klichkeit. Die Corona-Zeit ist eine Übung im Ertragen offener, mehrdeutig­er Situatione­n. Ich sehe das Virus nicht, trotzdem kann es gefährlich sein, Menschen zu treffen, und zwar nicht nur für mich. Es mag mich in den Fingern jucken, jetzt auch Klopapier zu kaufen, aber es ist unvernünft­ig. Die einfache Reaktion ist, das Grau des Uneindeuti­gen in ein Schwarzwei­ß aus Erregung und Misstrauen aufzulösen (alles Idioten! Ich weiß selbst, was am besten für mich ist!). Die klügste Reaktion ist es nicht, eben weil das Geschehen viel zu komplex ist.

Ein solcher Unwille gegenüber Komplexitä­t und Ambivalenz ist aber zu beobachten; Aufrufe zu „Corona-Partys“sind nur sein radikalste­r Ausdruck. Und das Phänomen fügt sich in die Entwicklun­g der vergangene­n Jahre in Deutschlan­d: Zurückhalt­ung, Gelassenhe­it und Vertrauen auf Fachversta­nd sind als gesellscha­ftliche wie als politische Tugenden rarer geworden. Dass die Krise auch ein Moment der Besinnung und der Selbstbesc­heidung sein könnte – das ist, zugegeben, eine kühne Hoffnung. Aber man wird ja wohl noch hoffen dürfen.

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